Bartoszewski auf
dem Irrweg? von Jürgen Zarusky


Was ist totalitär?
von Leonid Luks


Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch
von Leonid Luks


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer


In seinem Kommentar zur Rede Wladimir Putins auf der Danziger Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges geht Thomas Urban auch auf die These Putins ein, daß "die Öffnung der Berliner Mauer zu den Verdiensten der Sowjetunion", zähle. Urban hält diese Äußerung  für derart unerhört, daß er sogar darauf verzichtet, sie ernsthaft zu kommentieren (Thomas Urban,"Putin und wie er die Welt sieht", Süddeutsche Zeitung vom 2.September 2009).In Wirklichkeit unterliegt es aber für die Mehrheit der Historiker keinem Zweifel, daß sich das Schicksal der Revolutionen von 1989 an der westlichen Peripherie des Ostblocks in erster Linie in Moskau entschied. Bis dahin stellte das sowjetische Regime für die Dogmatiker in Ost-Berlin, Budapest, Prag und Warschau einen ruhenden Pol dar. Mit ihm konnten sie immer rechnen, wenn sie innere Krisen aus eigener Kraft nicht bewältigen konnten. Unter Gorbatschow geriet dieser Pol aber selbst in Bewegung: "Mit sowjetischen Panzern zum Erhalt der politischen Macht (der osteuropäischen Verbündeten Moskaus) war nicht mehr zu rechnen", schreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen. Erst dieser Paradigmenwechsel in der Politik Moskaus gegenüber seinen osteuropäischen Vasallenstaaten bestimmte den Charakter der Umwälzungen von 1989. Die Tatsache, daß das 1953 in Ost-Berlin, 1956 in Budapest und 1968 in Prag erprobte Szenario der gewaltsamen Unterdrückung des Freiheitsstrebens der Völker Osteuropas sich 1989 nicht wiederholte, also auch die Tatsache, daß die Öffnung der Berliner Mauer friedlich verlief, war in erster Linie darauf zurückzuführen, daß die sowjetischen Panzer in ihren Kasernen verblieben. Über diesen Sachverhalt sind sich unzählige Akteure der damaligen Ereignisse im klaren, obwohl Thomas Urban behauptet, daß man dies in Danzig angeblich "noch nie gehört hat". Auf einem ganz anderen Blatt steht der Umstand, daß es wenig überzeugend klingt, wenn sich Putin mit den Verdiensten Gorbatschows zu schmücken versucht. Dies ungeachtet der Tatsache, daß er noch vor kurzem die Prozesse, die Gorbatschow seinerzeit eingeleitet hatte, als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnete.

Eichstätt, 30. September 2009
Leonid Luks


Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Was ist totalitär? von Leonid Luks

Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch
von Leonid Luks


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

Bartoszewski auf dem Irrweg?

Władysław Bartoszewski genießt in Deutschland hohes Ansehen. 1986 hat er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten und 1995 hielt er die Gedenkrede zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges vor dem Deutschen Bundestag. Bartoszewski war als junger Mann im deutsch besetzten Polen von September 1940 bis April 1941 im KZ Auschwitz inhaftiert. Nach der Entlassung war er aktiv im 1942 gegründeten „Konrad-Żegota-Komitee“, das zahlreiche Juden vor dem nationalsozialistischen Massenmord rettete. Zwischen 1946 und 1954 verbrachte er als Gegner der Kommunisten insgesamt sechs Jahre unter falschen Anschuldigungen in Haft. Der Journalist und Historiker wurde 1963 als einer der ersten überhaupt von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet, der für uneigennützige Hilfe für Juden im Holocaust verliehen wird. Als Unterstützer der Solidarność wurde er bei Ausrufung des Kriegsrechts in Polen 1981 interniert und nach fünf Monaten aufgrund internationaler Proteste entlassen. Zwischen 1983 und 1989 lehrte er an den bayerischen Universitäten München, Eichstätt (1985/86) und Augsburg und hielt zahlreiche Vorträge. Auf diese Zeit vor allem geht Bartoszewskis Ansehen in Deutschland zurück.

 In jüngster Zeit aber gab es zahlreiche kritische Berichte und sogar Negativschlagzeilen über den aktuell als Beauftragten des polnischen Ministerpräsidenten für internationale Beziehung Tätigen wegen seiner Kritik an Erika Steinbach, der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen und ihres Projektes eines „Zentrums gegen Vertreibungen“. Bundestagspräsident Lammert nahm sogar in einem offenen Brief in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 7. März 2009 Steinbach gegen Bartoszewski in Schutz (nachzulesen unter http://www.cdu.de/archiv/2370_25872.htm; Bartoszewskis Antwort findet sich unter http://www.kas.de/wf/doc/kas_15967-544-1-30.pdf)

Zu den schärfsten Kritikern Bartoszewskis gehört der Polen-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, Thomas Urban. Jürgen Zarusky, Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München, der noch als Student Bartoszewski während seiner Münchener Zeit kennengelernt hat, und dem ZIMOS seit langem in vielfältiger Weise verbunden ist, hat Urban in einem Leserbrief widersprochen, den wir hier dokumentieren, weil er einige Fragen grundsätzlicher Bedeutung anspricht:

Leserbrief zu „Eine politische Unanständigkeit“ und zum Kommentar „Bartoszewski auf dem Irrweg“, SZ vom 17. Februar 2009

 Das Bild, das Thomas Urban von Władysław Bartoszewski, dem Beauftragten des polnischen Ministerpräsidenten Tusk für Internationale Fragen, zeichnet, irritiert mich schon seit geraumer Zeit. Den bockbeinigen, nationalistischen Eisenfresser, den Urban vorführt, kenne ich nicht, wohl aber kenne ich Władysław Bartoszewski, und zwar schon seit den frühen 1980er Jahren, als er als Exilant aus Kriegsrechtspolen Gastprofessor an der Münchener Universität war. Ich weiß, dass er schon damals, als es politisch für ihn höchst riskant war, das Gespräch mit Vertretern der deutschen Heimatvertriebenen gesucht hat. Urban erwähnt in seinem Artikel polnische Vorwürfe, wonach Bartoszewski sein Schicksal im deutschbesetzten Polen überdramatisiert haben soll, nennt hierzu aber keine Fakten. Gerade diese machen aber den Unterschied zwischen einer Nachricht und einer (unguten) Nachrede aus. Bartoszewskis Kritik, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, betreibe Geschichtsrevision, hält Urban für unbegründet, habe Steinbach doch die Vertriebenen als „Opfer der Politik Hitlers“ eingestuft. Wie sie das versteht, hat sie am 5. September 2006 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt: Hitler habe den Wünschen, die Deutschen zu vertreiben, die es in der Tschechoslowakei und Polen schon vor der NS-Herrschaft gegeben habe, die Begründung geliefert. „Hitler hat die Tore aufgestoßen, durch die andere dann gegangen sind, um zu sagen, jetzt ist die Gelegenheit, die packen wir beim Schopfe.“ Welch krudes Geschichtsbild! Als hätten Tschechen und Polen die deutsche Besatzung, den Krieg und den nationalsozialistischen Völkermord geradezu herbeigesehnt, um sich der Deutschen entledigen zu können. Urban präsentiert die Steinbachsche Redewendung von den „Opfern der Politik Hitlers“ allen Ernstes als ein Versöhnungsangebot und kritisiert, dass Bartoszewski, der als Angehöriger der polnischen Bildungsschicht vom September 1940 bis April 1941 im KZ Auschwitz inhaftiert war und später im Holocaust für die Rettung von Juden aus dem Warschauer Ghetto kämpfte, sich darauf nicht einlässt. Wenn man sich hauptsächlich am Klang der Worte orientiert, kann man natürlich auch Versöhnung und Verhöhnung verwechseln. Władysław Bartoszewski hat hier offenkundig ein bisschen genauer hingehört als Thomas Urban.

Dr. Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte, München


Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Was ist totalitär? von Leonid Luks

Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch
von Leonid Luks


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

Politischer Realismus und Werturteile: Politisch-ethische Anmerkungen zu einer Kontroverse über Putins Russland



Im „Eurasischen Magazin“ (EM) wurde zwischen November 2008 und März 2009 eine Iheftige Kontroverse ausgetragen über die Bewertung der Präsidentschaften Jelzins und Putins in Russland. Den Anstoß gab ein Beitrag von Andreas Umland (EM, 1.11.08), der die These vertrat, die Periode Putin stelle für Russland eine vertane Chance dar, da in ihr die positiven Elemente von Demokratie und Pluralismus aus der Jelzin-Ära weitgehend beseitigt worden seien. Nach einigen scharfen Repliken trat Leonid Luks (EM, 1.1.09) seinem Mitarbeiter Umland (EM, 1.1.09) zur Seite; beide unterstrichen noch einmal die Zurückdrängung demokratischer Elemente und Strukturen im gegenwärtigen Russland, und Leonid Luks belegte historisch, diese seien in Russland keineswegs Fremdkörper, vielmehr seien sie mehrfach gewaltsam unterdrückt worden.

Die Kritik mehrerer Autoren an Umland und Luks hatte zwei Schwerpunkte. Zum einen sei die Ära Jelzin keineswegs so positiv, die Putins nicht so negativ zu sehen wie bei Umland. Zum anderen dürfe man die Entwicklung in Russland nicht einseitig mit westlich-liberalen Maßstäben messen, müsse vielmehr vielfältige sozio-kulturelle und geschichtliche Umstände berücksichtigen.

Zu dem ersten Einwand kann ich nichts weiter sagen; ich bin kein Historiker und Russlandkenner. Manches an den Einwänden gegen Umland scheint mir plausibel, so vor allem der mehrfache Hinweis auf die problematische, fast chaotische Situation Russlands am Ende der Ära Jelzin, und auf die Erfolge Putins im Wiederherstellen geordneter Zustände in Wirtschaft und Politik, was freilich einen hohen Preis hatte. Nimmt man diesbezüglich Kritik und Gegenkritik zusammen, so ergibt sich, wie häufig in der Betrachtung geschichtlich-politischer Vorgänge, ein gemischtes Bild, eher grau als schwarz oder weiß. Es bleibt aber festzuhalten, dass auch die Kritiker Umlands und Luks´ erhebliche Defizite der Ära Putin registrieren: Seine „autoritäre Modernisierung“ ist von schweren Mängeln an Transparenz und Kontrolle, an Offenheit gegenüber den durchaus vorhandenen zivilgesellschaftlichen Kräften und an rechtsstaatlichen Erfordernissen gekennzeichnet. Keiner der Kritiker würde Putin wohl mit Gerhard Schröder als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnen.

Damit sind wir beim zweiten Einwand der Kritiker gegen Umland und Luks: Diese mäßen Russland mit falschen, westlich-liberalen Maßstäben. Hier stellt sich die Frage nach den Bewertungskriterien und nach deren Legitimität, und dies soll uns im Folgenden beschäftigen. Vorderhand ist in diesem Punkt eine gewisse Widersprüchlichkeit bei einigen Kritikern festzustellen. Einerseits sollen keine „westlich-liberalen Maßstäbe“ an Russland angelegt werden; Kai Ehlers z. B. nennt sie eine „ideologische Brille“ (EM, 1.1.09). Andererseits setzen dann auch die Kritiker auf eine demokratisch-pluralistische Entwicklung Russlands. Wladislaw Below (EM, 1.1.09) glaubt, die Negativa der Ära Putin durchaus einräumend, eine ganze Reihe zivilgesellschaftlicher Elemente und positive Ansätze für die weitere Entwicklung in Russland feststellen zu können. Kai Ehlers hält den „sozialen Dialog“ der Regierung mit der Bevölkerung für entwicklungsbedürftig, „Demokratisierung“ für dringend geboten, also doch keine „ideologische Brille“? Alexander Rahr bescheinigt Umland die „gängige westliche Sichtweise“ auf Russland und konstatiert: „Den meisten Russen war und ist Demokratie weniger wichtig als staatliche Ordnung und nationale Würde. Liberale Menschenrechte sind weniger attraktiv als soziale Fürsorge“ (EM, 30.11.08). In einem zweiten Beitrag betont er aber mit Nachdruck, dass Russland sich selbst seit langem als europäisch und als Teil des heutigen Europas betrachte und dass es einen Weg zu einer „wertorientierten Partnerschaft“ mit dem Westen finden müsse. Welche Wertmaßstäbe dürfen, sollen, müssen wir also ins Spiel bringen gegenüber einem Land, das immerhin längst Mitglied des Europarates ist und sich also auch auf die Europäische Erklärung der Menschenrechte verpflichtet hat?

In zwei Punkten kann man, wie mir scheint, den Kritikern von Umland und Luks erheblich entgegenkommen. Zum einen hängt die Entwicklung Russlands zu einem offeneren, pluralistisch-demokratischen System auch vom Maß politischer Klugheit ab, mit der westliche Politik (EU, NATO, USA) die gegenseitigen Beziehungen positiv zu gestalten versucht. Politik ist immer ein Handeln in Interdependenzverhältnissen, in Zug und Gegenzug. Das braucht man hier nicht weiter auszuführen; auch nicht, dass unter diesem Aspekt manche Züge westlicher Politik als problematisch angesehen werden können. Zum anderen ist der bei mehreren Autoren zu findende Hinweis hilfreich, dass Demokratie in sehr unterschiedlichen Formen realisierbar ist, die den spezifischen Verhältnissen je einzelner Länder Rechnung tragen können. Es gibt bekanntlich monarchische und republikanische, präsidiale und parlamentarische, zentralistisch und föderalistisch strukturierte Demokratien; es gibt eher repräsentativ und eher plebiszitär geformte Demokratien. Hinzu kommen sehr unterschiedliche Formen eines allgemeinen Wahlrechts, die zu unterschiedlichen  Regierungsformen führen. Schließlich gibt es sehr verschiedenartige und in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befindliche Parteiensysteme, die gemessen an den funktionalen Erfordernissen von Demokratie nicht selten erhebliche Defizite aufweisen. Unter all diesen Aspekten darf man in der Tat nicht alles über einen Leisten schlagen wollen.

Aber ich sehe nicht, dass Umland und Luks in ihrer Kritik am gegenwärtigen Russland auf einer bestimmten Form von Demokratie insistierten. Vielmehr ging es ihnen ersichtlich um Grunderfordernisse und Bedingungen der Möglichkeit freiheitlich-rechtsstaatlicher Ordnung, um die grundlegenden Menschenrechte, um Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und gesellschaftlichen Pluralismus. In diesen Punkten sollten wir in der Tat keine Abstriche machen gegenüber Ländern, die den Anspruch erheben, zum Kreis der europäischen Demokratien zu gehören. Mein Eindruck aus der Kontroverse ist der, dass sich in dieser Hinsicht die meisten Diskutanten einigen könnten.

Das kann man freilich nicht sagen bezüglich der beiden Beiträge von Rudolf Maresch. Sie sprengen den Rahmen der Russland-Kontroverse, indem sie den gesamten asiatischen und damit teils auch den islamischen Raum einbeziehen, und sie machen mit ihren zugespitzten, teils polemischen Urteilen die Frage nach angemessenen Urteilskriterien viel dringlicher als die anderen Beiträge. Mareschs Position fordert eine eigene Auseinandersetzung, in der ich mich hier auf die politiktheoretischen und politisch-ethischen Aspekte konzentriere.

In seinem ersten Beitrag (EM, 1.1.09) wirft Maresch Umland vor, er bediene sich eines überholten idealtypischen und zweiwertigen Beobachtungsmusters. Dann bringt er eine lose gefügte Kette von Argumenten gegen den „Glauben“ an die Vorherrschaft liberaler Demokratie: Im asiatischen Raum seien Systeme im Vormarsch, die Autokratie und Wohlstand als vereinbar erwiesen; Modernisierung laufe also keineswegs zwangsläufig auf Demokratie hinaus. Den Menschen seien in ihrer „anthropologischen Bedürftigkeit“ Sicherheit und Stabilität wichtiger als Freiheit. Thomas Hobbes und Bert Brecht sind seine Gewährsleute für diese einfach gestrickte politische Philosophie, die er gegen Umlands „universalistischen Werte“ ins Feld führt. Hinzu kommt für ihn als gewichtiges Argument, dass der demokratische Westen keineswegs moralisch unbefleckt dastehe, dass ihm vielmehr erhebliches Fehlverhalten anzulasten sei. Schließlich könnten freie Wahlen fundamentalistische Akteure an die Macht bringen. Schon Gorbatschow sei mit seiner Politik zum „Totengräber“ des sowjetischen Imperiums geworden, und Putins Ordnungsmaßnahmen hätten das Chaos und die oligarchische Herrschaft der Jelzin-Ära beseitigt. Das mündet dann in ein Plädoyer für „politischen Realismus“ gegen eine „politische Theologie der Menschenrechte“ und in die Frage, ob nicht überhaupt die liberale Demokratie ein Auslaufmodell sei.

Wer in Fragen politischer Theorie und Philosophie einigermaßen bewandert ist, kann nur staunen über dieses wenig konsistente Konglomerat von Argumenten. In seinem zweiten Beitrag (EM, 1.3.09) ist Maresch kaum überzeugender. Eine Bestandsgarantie für die Zukunft der Demokratie könne es nicht geben – als ob das jemand behauptet hätte. Es seien erhebliche Machtverschiebungen im Gange, das Ende der europäisch-amerikanischen Dominanz nahe, und die Welt kehre zum „Normalzustand“ zurück – was immer das sein mag. Zustimmen kann man Mareschs Aussage, die Verschiebung der globalen Gewichte erfordere Kooperation. Aber dann führt er wieder die „Effizienz“ autoritärer Systeme gegen die „Haus- und Hofphilosophie“ von Leonid Luks ins Feld, bringt seinen „politischen Realismus“ gegen „Werte und Ideale“ in Stellung, welche ja zudem diskreditiert seien durch die Sünden der Demokratien – siehe die Kriege der Demokratie Israel.

Man weiß nicht recht, wo eine sinnvolle Auseinandersetzung mit Maresch beginnen soll, weil er durchgehend Fakten, Prognosen und Wertungen argumentativ miteinander vermengt, seine Prognosen mit hoher Gewissheit vorträgt und seine Wertungen als Rundumschläge austeilt. Immerhin stellt er zum Schluss fest, man könne nicht wissen, wie es in der Konkurrenz der Weltmächte weitergeht. Aber das ist eine banale Feststellung, und sie enthebt uns keineswegs der Frage, wie es denn nach unseren Wertvorstellungen weitergehen solle und wie denn die so gepriesene „Effizienz“ der aufstrebenden autoritären Systeme zu beurteilen sei. Mareschs Realismus läuft auf die platte Feststellung hinaus: Was ist und was Erfolg hat, ist auch richtig. Das hatten wir schon. Deshalb sei hier versucht, zu einigen politiktheoretisch-philosophischen Fragen, die Maresch durcheinander bringt, ein paar Klärungen beizutragen.

Zunächst fällt auf, dass Maresch sich in einem fundamentalen Selbstwiderspruch bewegt. Sein Hauptvorwurf gegen Umland und Luks lautet, sie mäßen Russland mit westlichen Maßstäben. Dabei scheint er nicht zu bemerken, dass sein eigener „politischer Realismus“, mit dem er die Effizienz der aufstrebenden asiatischen Systeme lobt, selbst auf westlichen Maßstäben und Wertungen beruht. Seine theoretischen Gewährsleute heißen Thomas Hobbes und Bert Brecht, unbestreitbar westliche Autoren. Mareschs Realismus ist ein Produkt westlichen Denkens. Es ist aber zugleich ein sehr kruder Realismus, weil Maresch nicht einmal seine eigenen Gewährsleute zu Ende denkt. Nach Brecht kommt zuerst das Fressen, dann die Moral. Aber auch diese „kommt“ eben bei Brecht; er war ein Moralist von hohen Graden. Maresch jedoch braucht für seine Theorie keine Moral. Der Rekurs auf Werte, schreibt er, sei „kontraproduktiv“. Die Frage, welches politische Modell mittelfristig das effizientere sein werde, sei höchstens macht- und geopolitisch interessant. Seine Kriterien für Effizienz sind ausschließlich materieller Fortschritt („Fressen“)  und Sicherheit.

Aber selbst bei Hobbes, dessen Leviathan Maresch zum „Grundtext jeder Staatstheorie“ erklärt (ein westlicher Grundtext!), steht für Sicherheit ein hoher Wertbegriff: der Friede. Es wäre der Mühe wert, den ethischen Gehalt dieses Friedens bei Hobbes zu prüfen, statt ihn gegen andere ethische Werte auszuspielen.

Dass Sicherheit der Basiswert politischer Ordnung ist und höherrangige Werte erst auf dieser Basis wichtig und realisierbar werden, ist Erkenntnis alteuropäischer politischer Philosophie. Nach Aristoteles entsteht die Polis um des Überlebens der Menschen willen, sie wird aber dann geformt um des guten Lebens willen. Die anthropologische Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass Menschen „Moral“ brauchen, nämlich gemeinsame kulturell-sittliche Orientierungen, die das Zusammenleben und die freie Entfaltung im Miteinander ermöglichen. Maresch glaubt das als „Haus- und Hofphilosophie“ oder auch als „politische Theologie“ abqualifizieren zu können. Aber exakt in diesem sittlichen Bedürfnis der Menschennatur liegt der Grund dafür, weshalb autoritäre und erst recht totalitäre Systeme auf Dauer sich selbst gefährden. „Auf Bajonetten kann man nicht gut sitzen“, sagte der Machtmensch Talleyrand. Die Frage nach Legitimität und Legitimation politischer Herrschaft lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken. Jedes System muss versuchen, sie so zu beantworten, dass es nicht immer nur auf Zwang zur Selbsterhaltung angewiesen ist.

Eben deshalb gibt es auch noch andere „Grundtexte“ europäischer Staatstheorie, was Maresch doch hoffentlich weiß. Hobbes gründet seinen Leviathan auf ein pessimistisches Menschenbild: Der Mensch ist des Menschen Wolf. John Locke geht dagegen von Vernunft und Freiheitsrechten des Menschen aus und kommt zu einer konstitutionellen Ordnung. Bei Rousseau schlägt ein ursprünglicher Individualismus in die kollektive Ordnung des Gesellschaftsvertrages um. Immanuel Kant begründet die rechtsstaatliche Republik aus der sittlichen Autonomie der Person und macht deren Würde zum Legitimationsgrund des republikanisch regierten Staates. Nach Montesquieu ist die Gewaltenteilung das zentrale Element solcher republikanischen Regierung. Erst sie gibt den Bürgern Sicherheit, weil diese nicht nur gegen den inneren und äußeren Feind nötig ist, sondern auch gegenüber der Staatsgewalt selbst. Das übergeht Maresch völlig.

Aus diesem Fundus europäischer politischer Philosophie stammen die ethischen Kategorien, mit denen wir politische Ordnungen und praktizierte Politik ethisch beurteilen. Sollen, müssen wir das alles über Bord werfen, weil uns aus anderen Traditionen Universalisierung unserer Werte vorgeworfen wird? Ein Vorwurf, der übrigens erst einmal zu prüfen wäre.

Die Herkunft dieser Ideen aus der europäischen Tradition steht außer Frage. Aber man darf auch fragen, ob es nicht Anknüpfungspunkte für sie auch in anderen Kulturen gibt. Bekanntlich findet sich die Goldene Regel auch in außerwestlichen Denktraditionen. Sie ist Ausdruck gegenseitigen Respekts der Menschen in ihrer anthropologischen Gleichheit; sie ist der Ursprung der Idee der Gerechtigkeit und des Verlangens der Menschen nach Recht im Miteinander und gegenüber dem Staat. Es gibt viele Erfahrungsgründe dafür, dass dieses Verlangen sich in keinem System völlig unterdrücken lässt und dass der fortgesetzte Versuch der Unterdrückung auf längere Sicht dem System selbst schadet. Im übrigen, Universalisierung hin oder her, auch Menschen, die in China oder Burma willkürlich eingesperrt oder gefoltert werden, empfinden das als Unrecht. Rechtsempfinden und Freiheitsverlangen entzünden sich in der Regel an erfahrenem, erlittenem Unrecht. Das war und ist in Europa und Amerika nicht anders als in anderen Regionen der Erde.

Vor diesem Hintergrund erweist sich auch der von Maresch penetrant vorgebrachte Einwand gegen westliches Beharren auf Menschenrechten und Demokratie, die liberalen Demokratien verstießen selbst fortwährend gegen ihre Werte, als zu kurz gedacht. Braucht man etwa keine Ethik, weil gegen sie verstoßen wird? Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir brauchen garantierte Menschenrechte und Institutionen der Kritik, der Kontrolle und der Opposition doch gerade deshalb, weil die Mächtigen allenthalben versucht sind, ihre Macht ungebührlich auszudehnen und zu missbrauchen. Rechtsstaatliche Demokratie verheißt keine paradiesische Gesellschaft, ist vielmehr Ausdruck der Erfahrung, dass es diese nicht gibt; Ausdruck der Fehlbarkeit aller Menschen, zumal auch der Herrschenden, und also der Notwendigkeit, diese auch in die Schranken weisen zu können. Wenn Maresch, übrigens allzu undifferenziert, dem „Westen“ Sünden und Fehler ankreidet, dann müsste er doch auch fragen, ob diese Sünden nicht noch zahlreicher und schwerer wären, wenn es die Kritik-, Kontroll- und Wechselmöglichkeiten rechtsstaatlicher Demokratie nicht gäbe. Wie schlimm wäre dieser böse Westen denn dann erst?

Es ist also Ausdruck eines sehr oberflächlichen Denkens, wenn Maresch das Argument von Leonid Luks auf den Mangel an solchen Selbstheilungskräften in autoritären Systemen leichthin vom Tisch wischt. Der tschechisch-amerikanische Politikwissenschaftler K. W. Deutsch hat bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts prognostiziert, die kommunistischen Diktaturen von damals könnten länger als noch eine weitere Generation kaum bestehen bleiben, weil sie ihre eigenen gesellschaftlichen Kräfte der Korrektur und der Lernfähigkeit blockierten. Prognosen sind gewiss immer problematisch, aber diese hat sich bewahrheitet.

Was also Maresch als seine Philosophie eines „politischen Realismus“ verkündet, ist arg kurz gedacht. Es gibt im politikwissenschaftlichen Diskurs in Amerika wie in Europa seit Jahrzehnten Wissenschaftler, die sich einer „realistischen Theorie“ der Politik bedienen. Wenn Maresch den Begriff aufnimmt, sollte er davon wissen. Diese Theorie sieht Politik im Kern von drei Antriebskräften bestimmt, von Interessen, von Macht und von Moral. Selbstverständlich entspringt politisches Wollen immer bestimmten Interessen und bedient sich politisches Handeln in der Konkurrenz der Interessen der Mittel der Macht. Das ist banal, und deshalb braucht man es nicht mit dem Gestus der Enthüllung vorzutragen. Realistische Politikwissenschaftler wissen das und analysieren es mit ihrem methodischen Instrumentarium. Sie wissen aber auch, dass man gerade deshalb die Frage nach der „Moral“ der Politik nicht auslassen darf; nach ihrer Moral sowohl als Frage nach tiefergründenden Überzeugungen, aus denen Menschen, Menschengruppen und Staaten ihre Interessen definieren – denn diese sind ja nicht einfach objektiv vorgegeben; wie auch als Frage nach Kriterien zur ethischen Beurteilung dessen, was die jeweiligen Machthaber treiben.

Wer auf diese Dimensionen einer Theorie von Politik verzichtet, dessen „Realismus“ landet im blanken Machiavellismus oder im Zynismus. Die „Effizienz“ einer politischen Ordnung kann man dann auf willkürlich gesetzte Ziele beziehen. Effiziente Systeme ohne Moral haben wir im 20. Jahrhundert hinlänglich erlebt und erlitten.

Vor der Frage nach der Effizienz steht immer die nach der Legitimation der Ziele und der Legitimität der Herrschenden. Daraus ergeben sich die Forderungen nach Transparenz, nach Kontrolle, nach Partizipation und nach Korrekturmöglichkeiten. Unabhängig davon, in welchen Formen von Demokratie diese Erfordernisse institutionelle Gestalt gewinnen, bleibt deshalb die These plausibel, dass Systeme, die diesen Erfordernissen zu wenig oder gar nicht Rechnung tragen, sich auf Dauer nicht werden halten können. Sie zerstören ihre eigenen gesellschaftlichen Grundlagen. Man muss diese These nicht europäischem Überlegenheitsgefühl oder gar mit Anmaßung vortragen. Sie ist aus allgemein menschlichen und aus vielen geschichtlichen Erfahrungen gut begründbar. Deshalb sollten wir für die liberale Demokratie streiten, gerade wenn und weil sie durch autoritäre Systeme neu in Frage gestellt wird; und wir dürfen auch in wissenschaftlichen Analysen alle Regime beim Wort nehmen, die beanspruchen, rechtsstaatliche Demokratien zu sein.

19. Juni 2009

Bernhard Sutor
Katnolische Universität Eichstätt-Ingolstadt


Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Politischer Realismus und Werturteile
von Bernhuard Sutor


Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch
von Leonid Luks


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

Was ist totalitär?

In seinem Beitrag „60 Jahre und kein bisschen heilig“ (Die Zeit,  Nr. 20, 7. Mai 2009) wendet sich Horst Dreier gegen die Verklärung des Grundgesetzes und warnt die Bundesrepublik davor, den Weg der USA zu beschreiten, in denen „der Streit um die Auslegung der allgemein vergötterten Constitution mit einer Vehemenz ausgetragen [wird], wie sie in Europa und Deutschland glücklicherweise noch nicht (ganz) durchschlägt“.

Dreier hält die emotionsgeladene Einstellung der Amerikaner zur Verfassung für totalitär und schreibt: „Die Identifizierung von Recht und Moral ist ein unverwechselbares Signum totalitärer Staaten“.

Durch diesen Vergleich lässt Dreier außer Acht, dass zum Wesen der totalitären Staaten nicht nur die moralisierende Attitüde, sondern auch, und vor allem, die vollkommene Aufhebung der Gewaltenteilung gehört. Der nationalsozialistische Maßnahmenstaat (Ernst Fraenkel) verkörperte geradezu die totale Willkür. Das Gleiche galt auch für den sowjetischen Staat, der bereits in seiner ersten Verfassung vom Juli 1918 die Gewaltenteilung offiziell aufhob. Das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee der Räte wurde hier als „das höchste  gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ“ Russlands bezeichnet.[1]

Zu der besonderen Perfidie der totalitären Staaten gehört aber nicht nur die Aufhebung der Gewaltenteilung, sondern auch die Verschleierung der wahren Machtverhältnisse.  Auch dieses Faktum wird im Beitrag von Horst Dreier mit keinem Wort erwähnt. So stellte im sowjetischen Staat das angeblich allmächtige Zentrale Exekutivkomitee der Räte in Wirklichkeit nur eine Marionette der bolschewistischen Partei dar.  Die Partei als wahre Alleinherrscherin Russlands bzw. der UdSSR wurde aber in den beiden ersten sowjetischen Verfassungen (von 1918 und von 1924) nicht einmal erwähnt.

Warum lehnten die Bolschewiki es ab, die Alleinherrschaft der Partei auch verfassungsmäßig zu verankern? Dieses Verschleiern der wahren Machtverhältnisse war durchaus beabsichtigt. Die Willkür der Herrschenden wurde dadurch keinen formalen Schranken unterworfen. So wurden die Bolschewiki zu Wegbereitern des ersten totalitären Staates der Moderne, dessen Wesen darin besteht, dass er keine  gesetzlichen Schranken kennt, ohne dies jedoch offen zuzugeben.  Daher rührt die Vorliebe der totalitären Regime für fassadenhafte Einrichtungen, die ihre Herrschaft zwar legitimieren, aber in keiner Weise begrenzen. So hielt die nationalsozialistische Führung in Deutschland es nicht für erforderlich, nach der Machtübernahme im Jahre 1933 die Weimarer Verfassung formell abzuschaffen. Die Nationalsozialisten regierten nicht zuletzt mit Hilfe des vom Reichstag bewilligten Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933, das der Reichstag – inzwischen eine Marionette des Regimes – 1937 und 1939 in grotesk anmutenden Zeremonien wiederholt erneuerte.[2] Dies verlieh der neuen Willkürherrschaft zumindest den Anschein der Legalität. Für ähnliche Zwecke benötigten die Bolschewiki die Fassade der Sowjetlegalität

Da von einer Aufhebung der Gewaltenteilung in den USA, wie sie für das NS-Regime und für die bolschewistische Diktatur typisch waren, keine Rede sein kann, führt der Versuch Dreiers, das US-System aufgrund der „Sakralisierung der Verfassung“ in die Nähe der totalitären Regime zu rücken, zur Verkennung der zentralen Wesensmerkmale des Totalitarismus, wie sie die Totalitarismusforschung der letzten achtzig Jahre so detailliert ausgearbeitet hat.

Was die in den USA verbreitete Neigung betrifft, „ewige Verfassungswerte mit religiöser Inbrunst“ auch außerhalb der USA zu verteidigen, so wird sie von Dreier im Hinblick auf die Administration von Bush Junior sicher mit Recht kritisiert. Einen wichtigen Punkt lässt der Verfasser allerdings außer Acht. Dieser Bereitschaft der Amerikaner, sich für die „ewigen Verfassungsrechte“ einzusetzen, haben es die Europäer nicht zuletzt zu verdanken, dass sowohl Hitlers Griff nach der Weltherrschaft als auch Stalins Drang nach der  Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs  bis zum Atlantik  (nach 1945) letztendlich gescheitert sind.

Diese Replik möchte ich mit folgender Bemerkung abschließen: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich Horst Dreier bei seiner Kritik an der emotionellen Einstellung zum demokratischen Verfassungsstaat ausgerechnet auf den Staatsrechtler Ernst Forsthoff beruft. Denn gerade Forsthoff gehörte seinerzeit zu den schärfsten Gegnern der von Dreier wegen ihrer „Nüchternheit“ so gelobten Weimarer Verfassung. In Anlehnung an Carl Schmitt beklagte sich Forsthoff z.B. über die Herrschaft der trockenen und unpersönlichen Normen in den modernen Verfassungsstaaten. In seinem Buch „Der totale Staat“ (1933) schrieb er: „Ehre, Würde, Treue […] entziehen sich der normativen Sicherung und Institutionalisierung […]. Der reine Rechtsstaat, das heißt der Staat, der sich existenziell erschöpft in einer Rechts- und Ämterordnung, ist der Prototyp einer Gemeinschaft ohne Ehre und Würde“.[3]

29.Mai 2009

Leonid Luks
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  


[1] Helmut Altrichter, Hrsg.: Der Sowjetstaat. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Band 1: Staat und Partei, München 1986, S.149.

[2] Michael Ruck: Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge – Verfassungsstruktur des NS-Staates, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen, Hrsg.: Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 1992, S.32-56, hier S.35f.

[3] Ernst Forsthoff: Der totale Staat, Hamburg 1933, S.13.




Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Politischer Realismus und Werturteile
von Bernhuard Sutor


Was ist totalitär? von Leonid Luks

"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch


Sind autegime effizienter als Demokratien? Diese Frage wird von Rudolf Maresch in seinem Beitrag „Die Entwestlichung der Welt ist längst im vollen Gang“ im „Eurasischen Magazin“ (3, 2009) eindeutig bejaht. Er hält es für einen Vorteil, dass Autokratien ohne Rücksicht auf die „Macht der Medienöffentlichkeit“ solch ehrgeizige Großprojekte realisieren können – wie z.B. den Drei-Schluchten-Damm in China „mit all [ihren] ökologischen Kosten oder Zwangsumsiedlungen“.

Man könnte, unabhängig von Maresch, viele andere Beispiele für die „Effizienz“ der Autokratien anführen, die sich allerdings beim näheren Hinsehen oft als trügerisch erweisen.

So gelang es Hitler z.B. innerhalb von 5 Jahren beinahe alle Restriktionen des Versailler Vertrages zu beseitigen. Man könnte deshalb meinen, das Dritte Reich sei effizienter als die Weimarer Republik gewesen, die sich im Verlaufe ihrer gesamten etwa 14-jährigen Existenz vergeblich um die Revision der Versailler Ordnung bemühte.

Dem NS-Regime gelang es auch, die Arbeitslosigkeit in Deutschland erheblich zu reduzieren. Die Zahl der Arbeitslosen, die im Januar 1933 noch etwa 6 Millionen betrug[1], sank im Jahre 1938 auf etwa 0,4 Millionen[2].

War also das NS-Regime effizient? Diese Frage lässt sich nur dann bejahen, wenn man davon abstrahiert, welchen Zwecken diese „Effizienz“ diente, also davon absieht, dass sie gänzlich auf den Krieg fixiert war. So betrug der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt im Dritten Reich im Jahre 1939 29%: „Im Mai 1939 waren mehr als 20% aller deutschen Industriearbeitnehmer für die Rüstung tätig“[3]. Und welchen Zielen diese enorme Aufrüstung dienen sollte, wurde von den NS-Führern noch vor Kriegsausbruch deutlich formuliert. So verkündete der „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, am 8. November 1938 folgendes: Hitler werde ein „großgermanisches Reich schaffen […], das größte Reich, das von dieser Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat“[4] . Diese Aussage wird vom Berliner Historiker Heinrich August Winkler folgendermaßen kommentiert: „[Die] Alternative lautete für Himmler: das ´großgermanische Reich oder das Nichts´“[5].

Hitler kündigte seinerseits in seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an.[6]

Die Folgen dieser beiden Ankündigungen sind bekannt. Sie stürzten Deutschland und ganz Europa in die größte Katastrophe ihrer Geschichte. Da die Hitlersche Autokratie sich jeder gesellschaftlicher Kontrolle entzog, konnte niemand die NS-Führung daran hindern, ihre programmatischen Vorstellungen von einer rassisch geprägten neuen Weltordnung in die Wirklichkeit umzusetzen. Es begann eine Reihe von Vernichtungsfeldzügen und „Endlösungen“, denen immer größere Menschengruppen zum Opfer fielen – psychisch Kranke, polnische Intellektuelle, sowjetische Kriegsgefangenen, Sinti und Roma, slawische Völker in den besetzten Gebieten, in erster Linie aber die Juden, die für die nationalsozialistische Ideologie das Böse an sich verkörperten und deshalb gänzlich eliminiert werden sollten. Lediglich der überlegenen Macht der Anti-Hitler-Koalition gelang es, die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes zum Stehen zu bringen. So hinterließ die angebliche „Effizienz“ des Dritten Reiches letztendlich nur Trümmer.

Und wie verhielt es sich mit der „Effizienz“ des Stalinschen Regimes, das nicht selten, und zwar sowohl im Osten als auch im Westen, als ein Vehikel zur Beseitigung der russischen „Rückständigkeit“ angesehen wird?

Es gelang Stalin in der Tat, innerhalb von etwa zehn Jahren (bis Ende der 1930er Jahre) die UdSSR zu einem der stärksten Industriestaaten der Welt zu machen. (Dies betraf natürlich nur die Schwer- und Rüstungsindustrie. Im Bereich der Konsumindustrie hinkte die Sowjetunion hinter den hochentwickelten Ländern des Westens hoffnungslos hinterher.)

Welchen Preis musste aber die sowjetische Bevölkerung für diese angebliche Effizienz der Stalinschen Autokratie bezahlen? Als erstes muss man die sowjetische Bauernschaft erwähnen – also etwa 80% der Bevölkerung –, die im Verlaufe der Kollektivierung der Landwirtschaft, die parallel zur Industrialisierung verlief, gänzlich enteignet wurde. Dem Bauernstand als solchem mit seiner emotionalen Bindung zur eigenen Landparzelle wurde dadurch das Rückgrat gebrochen. Deshalb spricht man in Russland gelegentlich von der „Entbäuerlichung“ der Bauernschaft. Die landwirtschaftliche Produktion fiel rapide, und so konnte das Land, das vor dem Ersten Weltkrieg zu den größten Getreideexporteuren der Welt zählte, sich selbst nicht mehr ernähren. Die unmittelbare Folge der Kollektivierung war die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte Russlands bzw. des russischen Reiches, der mehr als 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen (in erster Linie in der Ukraine und in Kasachstan).

Seitens des Regimes wurde kaum etwas unternommen, um diese Katastrophe zu bekämpfen.

Im Gegenteil. Die Bauern, die aus den von der Hungersnot besonders stark betroffenen Gebieten zu fliehen suchten, so vor allem in die besser versorgten Städte, wurden von den Terrororganen mit Gewalt daran gehindert.

Im Dezember 1932 wurde in der Sowjetunion ein neues Passsystem eingeführt, mit dem ausdrücklichen Ziel, „die Städte von den sich dort verbergenden Kulaken, Verbrechern und sonstigen asozialen Elementen zu reinigen“.[7] Nur die Inhaber der neuen Pässe hatten das Recht, in Städten zu wohnen. Da die Kolchosbauern in der Regel solche Ausweise nicht erhielten, wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Nicht zuletzt deshalb galt die Kollektivierung der Landwirtschaft im Volksmunde als die „zweite Leibeigenschaft“.

Aber nicht nur die Abriegelung der Städte und die Eindämmung der Landflucht, sondern auch andere Fakten weisen darauf hin, dass die stalinistische Führung keineswegs daran interessiert war, die Hungersnot auf dem Lande zu lindern. So exportierte die Sowjetunion ungeachtet der dramatischen Verschlechterung der Versorgungslage, weiter Getreide. Im Jahre 1933, auf dem Höhepunkt der Hungersnot, wurden z.B. 18 Millionen Doppelzentner Weizen exportiert.[8]

Der sowjetische Agrarhistoriker Viktor Danilow schrieb zur Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka (1988): „Der Hunger von 1932-33 stellte das schrecklichste Verbrechen Stalins dar. Dies war eine Katastrophe, die die gesamte künftige Entwicklung des sowjetischen Dorfes entscheidend prägte.“[9]

Neben der Senkung des Lebensstandards finanzierte die sowjetische Führung die schnelle Industrialisierung durch die relativ billige Zwangsarbeit. Die Zahl der Häftlinge in den Arbeitslagern und die der Deportierten (in erster Linie der wohlhabenden Bauern – der „Kulaken“) wuchs im Jahre 1931 im Vergleich zum Jahre 1928 von 30 000 auf etwa 2 Millionen. Die Sicherheitskräfte (OGPU, seit 1934 NKWD - Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) entwickelten sich zu einem Staat im Staate, zu einem gigantischen Wirtschaftsunternehmen mit Millionen von Arbeitern, die den Staat kaum etwas kosteten, die massenweise an Unterernährung und Überarbeitung starben. 1931 entstand in Moskau die sog. Entkulakisierungskommission unter der Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, A. Andrejew. Diese Kommission stellte den Sicherheitsorganen und den unter ihrer Leitung stehenden Industriebetrieben die deportierten „Kulaken“ als Zwangsarbeiter zur Verfügung. So beschloß die Kommission z.B. am 30. Juli 1931, dem Industriekomplex Wostok-Stal (Ost-Stahl) 14 000 Kulakenfamilien zuzuteilen, dem Industriekomplex Wostok-Ugol (Ost-Kohle) 7 000 Familien usw.[10]

Gewalt und erzwungener Konsumverzicht allein hätten indes keineswegs dazu ausgereicht, um eine derart schnelle Industrialisierung des Landes durchzuführen. Eine zusätzliche Bedingung für das Gelingen der Stalinschen Revolution von oben war auch die Opferbereitschaft und der Enthusiasmus unzähliger Industriearbeiter, vor allem aus der jüngeren Generation. Viele dieser Arbeiter waren stolz darauf, sich an einem derart ehrgeizigen Unternehmen wie der Überwindung der „russischen Rückständigkeit“ zu beteiligen. Dies betraf in erster Linie die Erbauer solch prestigeträchtiger Großprojekte wie der neuen Industriestadt Magnitogorsk im Ural, des Dnjepr-Staudamms (Dnjeproges), des Traktorenwerks in Stalingrad oder der Moskauer Metro.

Die sowjetische Propaganda bediente sich einer martialischen Sprache, um das Engagement der Industriearbeiter als kriegerischen Einsatz darzustellen und feierte die „Helden der Arbeit“ wie Kriegshelden. Diese Indoktrination verfehlte ihre Wirkung nicht. Manche stalinistischen Denkklischees wurden von unzähligen Sowjetbürgern verinnerlicht. Dies lässt sich sicher als einer der größten Erfolge des Regimes bezeichnen, das in erster Linie auf Unterjochung und Ausbeutung der eigenen Bevölkerung basierte.

Der Arbeitsenthusiasmus, die Opferbereitschaft der Vorkämpfer gegen die „russische Rückständigkeit“ ließen sich nicht allzulange aufrechterhalten. Fehlentscheidungen und die dilettantische Vorgehensweise des sowjetischen Industriemanagements, Unerfahrenheit und mangelnde Fachkenntnisse der neuen Generation der sowjetischen Industriearbeiter führten immer wieder zum Stillstand der Produktion, zu unzähligen Pannen usw. All das wirkte sich äußerst negativ auf die Arbeitsmoral aus. Dazu kamen die katastrophalen Wohnverhältnisse und permanente Versorgungsschwierigkeiten, die nicht zuletzt aus der Zerschlagung des Privatsektors im Handel und in der Konsumgüterindustrie Ende der 20er/Anfang der 30er resultierten. Auch diese Faktoren lähmten den ursprünglichen Elan der Erbauer des neuen Russland und führten wiederholt zu Protesten und Unmutsäußerungen unterschiedlichster Art. Da die stalinistische Führung jede Kritik von unten als Sakrileg empfand, benötigte sie immer einen „Vorrat an Feinden“ ( nach den Worten des tschechoslowakischen Dissidenten Eduard Goldstücker), um sie für die Fehler des Regimes verantwortlich zu machen. Dies waren die sog. „Saboteure“, „Schädlinge“, „Agenten des Imperialismus“ und schließlich „Volksfeinde“, ohne die das stalinistische System praktisch nicht existieren konnte.

Der durch den Verfolgungswahn des Kreml-Tyrannen ausgelöste Massenterror war gegen alle Schichten der sowjetischen Bevölkerung gerichtet. Mehr als 681.000 Personen wurden allein in den Jahren 1937/38 hingerichtet.[11]

Eine Tragödie besonderer Art stellte für das Land die Enthauptung der Roten Armee durch die Stalin-Riege ausgerechnet am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges dar. 40 000 Offiziere gerieren ins Räderwerk der stalinistischen Terrormaschinerie. Eine besonders erschreckende Zahl soll in diesem Zusammenhang angeführt werden: Im deutsch-sowjetischen Krieg sind etwa 600 sowjetische Generäle gefallen. Dem Krieg Stalins gegen die Rote Armee in den Jahren 1937-39 fielen dreimal so viele Generäle bzw. dem Generalsrang Gleichgestellte zum Opfer.[12]

Die Stalinsche Führung schuf in den 1930er Jahren ein System, das der Philosoph Anatolij Butenko zur Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka als die „Hölle auf Erden“ bezeichnete. Diese „Hölle“ wurde aber von den stalinistischen Propagandisten zum „Paradies auf Erden“ stilisiert, in dem das Leben nach den Worten Stalins „besser und fröhlicher“ geworden sei.

Es gibt natürlich autokratische Regime, die weniger blutrünstig als das Stalinsche oder das Hitlersche sind, und die ihre „raubtierhaften Züge“ ablegen (diese Worte benutzte der sowjetische Bürgerrechtler Andrej Sacharow in Bezug auf das nachstalinsche Regime in der UdSSR).[13]

Da aber auch die Autokratien milderer Art keiner gesellschaftlicher Kontrolle unterliegen, kann sie niemand daran hindern, in bestimmten Krisensituationen ihren Kurs zu verhärten. Aus all diesen Gründen kann man die von Rudolf Maresch so gelobte Effizienz der autokratischen Regime eher als trügerisch bezeichnen.

Zum Schluss möchte ich noch mit einem Missverständnis aufräumen. Herr Maresch wirft mir vor, dass ich in meinem Beitrag „Die Demokratie ist kein Auslaufmodell“ (Eurasisches Magazin 2/2009) zur Verklärung der westlichen Denkmodelle neige. Dies trifft aber keineswegs zu. In meinem Text weise ich eindeutig darauf hin, dass die Ablehnung der „offenen Gesellschaft“ auch im Westen eine sehr verbreitete Erscheinung darstellt. Zu dem bereits Gesagten möchte ich noch hinzufügen, dass das reibungslose Funktionieren der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und der Judendeportationen in die Vernichtungslager im Osten ohne unzählige Kollaborateure in den besetzten Ländern West- und Osteuropas undenkbar gewesen wäre. Die Namen Quisling, Laval, Degrelle, Szálasi stehen stellvertretend für sehr sehr viele.

Was die europäische Linke anbetrifft, so gab es hier, wie bekannt, unzählige Bewunderer solcher Massenmörder wie Stalin und Mao Tse-tung.

So ist der Westen in seiner Einstellung zur freiheitlichen Gesellschaftsordnung gespalten. Das Gleiche gilt aber auch für den Osten. Denn auch dort findet eine ununterbrochene Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern und den Verächtern der Freiheit statt. Die chinesischen Studenten, die im Frühjahr 1989 am Platz des Himmlischen Friedens gegen das eigene repressive Regime demonstrierten, oder die birmanischen Oppositionellen zeigen, dass die emanzipatorischen Bestrebungen und die Infragestellung der autokratischen Herrschaftsmethoden nicht nur ein westliches, sondern ein universales Phänomen darstellen. Früher oder später werden auch die „effizientesten“ Autokratien damit konfrontiert. Dieser Sachverhalt wird von Rudolf Maresch unterschätzt.

24. April 2009

Leonid Luks


Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt


[1] Ian Kershaw: Hitler. 1889-1936, Stuttgart 1998, S.502.

[2] Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, München 2002, S.62.

[3] Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland, München 2005, S.557.

[4] Zit. nach Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 2, S.62.

[5] Ebenda.

[6] Zit. nach Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entstehung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Darmstadt 1990, Teilband II, S.282.

[7] Edgar Hösch/Hans-Jürgen Grabmüller: Daten der sowjetischen Geschichte von 1917 bis zur Gegenwart, München 1982, S.82.

[8] Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk, in: Stéphane Courtois, Hrsg.: Das Schwarzbuch des Kommunismus, München-Zürich 1998, S.185

[9] Istorija SSSR [Geschichte der UdSSR), 3/1989, S.55.

[10] S. Kuleschow u.a.: Nasche Otetschestwo [Unser Vaterland], Moskau 1991, Band 2, S.255.

[11] A. Artisow u.a. Hrsg.: Reabilitatsija. Kak eto bylo [Rehabilitierung. Wie es war], Moskau 2000, S.317.

[12] Bernd Bonwetsch: „Die Geschichte des Krieges ist noch nicht geschrieben“: Die Repression, das Militär und der Große Vaterländische Krieg, in: Osteuropa 1989, S.1021-1038, hier S.1021.

[13] Andrej Sacharow: Die Unvermeidlichkeit der Perestrojka, in: Jurij Afanassjew, Hrsg.: Es gibt keine Alternative zu Perestrojka, Nördlingen 1988, S.161.

.

Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Politischer Realismus und Werturteile
von Bernhuard Sutor


Was ist totalitär? von Leonid Luks

Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch
von Leonid Luks


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

Verworrenes Geschichtsdenken - lassen sich Demokratien mit totalitären Diktaturen vergleichen?

Die amerikanische Kulturkritikerin Naomi Wolf gab vor kurzem der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem sie die heutige amerikanische Situation unentwegt mit der Lage Deutschlands in den 1930er Jahren verglich („Ich vergleiche Bush nicht mit Hitler, ich ziehe nur Parallelen“, SZ vom 9.11.2007). Dabei geht es bei diesem Vergleich nicht um die krisengeschüttelte Weimarer Demokratie der Jahre 1930-1933, sondern um die 1933 errichtete Hitler-Diktatur. Die USA in der Ära von George W. Bush werden also mit einem Staat verglichen, in dem sich das Parlament infolge des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933 in eine Marionette verwandelte, in dem die politischen Parteien bis auf die herrschende aufgelöst, die freien Gewerkschaften zerstört und die freien Medien gleichgeschaltet wurden. Von diesem Zeitpunkt an durfte der Kurs der Regierung nur durch Anspielungen, nur zwischen den Zeilen kritisiert werden, wie dies z.B. die Frankfurter Zeitung tat.

Die 30er Jahre in Hitler-Deutschland – das sind auch die Konzentrationslager, die Nürnberger Gesetze, die Novemberpogrome von 1938 und schließlich die per Führer-Ermächtigung vom Oktober 1939 begonnene Ermordung der psychisch Kranken, die von den NS-Ideologen in die Kategorie „lebensunwertes Leben“ eingeordnet wurden (Vgl. dazu Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1989, S.143; Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000, S.349f.).

Außerhalb Deutschlands wird das NS-Regime in den ausgehenden 30er Jahren mit den „Einsatzgruppen“ an der Ostfront assoziiert, die „bereits Mitte September 1939 ihren Vernichtungskampf [gegen die] geistige und geistliche Oberschicht Polens“ begonnen haben. Später – in den 1940er Jahren – sollte diesem Vernichtungsfeldzug beinahe die gesamte jüdische Bevölkerung der Region zum Opfer fallen (Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. Teilband II, Darmstadt 1990, S.288; siehe dazu auch u.a.Helmut Krausnick/Hans-Henrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981).

Was veranlaßt Frau Wolf zu einem so gewagten Vergleich eines demokratischen Staates mit einer totalitären Diktatur? Sie sagt: „[Diese] Regierung [hat] sieben Jahre lang den Gesellschaftsvertrag unserer Demokratie mit Füßen getreten [...]. Sie geht einfach davon aus, daß wir das nicht bemerken. Und da soll ich als Amerikanerin nicht das Recht haben, das mit Hitler in den Dreißigern zu vergleichen?“. Versuche der Bush-Administration Bundesanwälte zu entlassen, werden mit den „Maßnahmen Goebbels´“ verglichen. Dann fügt sie noch folgendes hinzu:“ Oder nehmen sie die Ärzte, die Folter unterstützt haben. Ärzte und Psychiater, die per Eid dazu verpflichtet sind, niemandem Schaden zuzufügen, und die per Unterschrift Praktiken zulassen, die das Rote Kreuz als Folter klassifiziert. Solche Ärzte gab es auch in Deutschland“.

Zwar versucht Frau Wolf diese Aussage etwas zu relativieren und erklärt: „[Das] ist kein Vergleich, sondern eine Parallele“. Diese Kasuistik vermag aber nicht zu überzeugen. Auch dem Gesprächspartner von Naomi Wolf ist nicht ganz klar, welcher Unterschied zwischen einer Parallele und einem Vergleich bestehen soll.

Zur Verwirrung trägt auch die Tatsache bei, daß Naomi Wolf die Regierung Bush nicht nur mit dem NS-Regime, sondern auch mit einer anderen totalitären Diktatur, nämlich mit dem Regime Stalins vergleicht. Sie zieht z.B. eine Parallele zwischen der US-amerikanischen Bekämpfung des Terrorismus und der stalinistischen Jagd nach den„Staatsfeinden“: „Das gab es auch unter Stalin, diese ständig veränderbare Definition eines Staatesfeindes, eines Subversiven, eines Saboteurs“. So werden die USA von heute mit einem Regime verglichen, das allein in den Jahren 1937/38 mehr als 680.000 angebliche „Volksfeinde“ hinrichten ließ (A.Artizov u.a., Reabilitacija. Kak eto bylo, Moskau 2000, S.317).

Dies allein zeigt, wie abwegig die Gedankengänge Naomi Wolfs sind. Sie versucht das Unvergleichbare miteinander zu vergleichen, was sie zu einem logischen Fehlschluß nach dem anderen verleitet. Denn Demokratien, auch wenn sie von Krisen geschüttelt sind, befinden sich institutionell und strukturell quasi auf einem anderen Planeten als totalitäre Diktaturen. Zum Wesen der totalitären Regime gehört nicht nur eine partielle Aushöhlung der politischen und gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, wie dies in Demokratien gelegentlich geschieht, sondern deren gänzliche Ausschaltung. Die Tatsache, daß die zerstörerische und selbstzerstörerische Politik Hitlers erst durch die überlegene Militärmacht der Siegermächte und diejenige Stalins erst nach dem Tode des Diktators gestoppt werden konnte, ist mit dieser gänzlichen Zerstörung der innenpolitischen Kontrollmechanismen verbunden. Die USA von heute verfügen hingegen über eine unüberschaubare Fülle solcher Kontrollinstanzen – die beiden Kammern des Parlaments, die unabhängige Gerichtsbarkeit, föderale Strukturen, Selbstverwaltungsorgane und last but not least: die freie Presse – die „vierte Gewalt“. Eine offene Anprangerung der Politik Stalins oder Hitlers, wenn man von solchen Ausnahmen wie Bischof von Galen absieht, stellte für die Kritiker in der Regel ein Todesurteil dar. Die radikale Kritik am Vorgehen der Bush-Administration füllt tagtäglich unzählige Spalten der amerikanischen Presse. Diejenigen, die diese grundlegenden Unterschiede als irrelevant abtun, befinden sich in einer konstruierten Pseudowirklichkeit, in der die wahren Sachverhalte praktisch auf den Kopf gestellt werden. Einen solchen gespenstischen Eindruck vermitteln auch die Gedankengänge von Frau Wolf. 80 Jahre mühsamer Versuche der Politik- und Geschichtswissenschaft, totalitäre Systeme zu definieren, ihre Unterschiede zu den autoritären Regimen hervorzuheben, den unterschiedlichen Charakter der totalitären Diktaturen rechter und linker Prägung zu analysieren – all das ist an Frau Wolf spurlos vorübergegangen. Sie wirft alle Diktaturen (lateinamerikanische, pakistanische, stalinistische, nationalsozialistische) in einen Topf: „Die Tyrannen, egal ob sie von rechts oder links kommen, folgen denselben Mustern, um die Demokratie auszuhebeln“. Aber sie begnügt sich nicht nur damit, sondern ordnet, wie oben gezeigt, auch das amerikanische System unter George W.Bush im Grunde in dieselbe Kategorie ein.

In gewisser Weise erinnert die „Diktatur“-These von Frau Wolf an die „Sozialfaschismus“-These, die in der von Stalin beherrschten Kommunistischen Internationale Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre vorherrschte und die die Sozialdemokratie und den Nationalsozialismus als verwandte Phänomene definierte. Erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mußten die Kommunisten allmählich feststellen, daß zwischen dem sogenannten „Sozialfaschismus“ und dem Nationalsozialismus doch ein qualitativer Unterschied bestand. Der Begriff „Faschismus“ wurde aber durch seinen inflationären Gebrauch weitgehend ausgehöhlt. Ähnliche Folgen könnte eine inflationäre Anwendung des Begriffs „Diktatur“ haben, wie sie von Frau Wolf praktiziert wird.

Und noch eine abschließende Bemerkung: Die Tatsache, daß die äußerst fragwürdigen Thesen Naomi Wolfs von ihrem Interviewer, bis auf wenige Ausnahmen, kaum in Zweifel gezogen werden, stellt kein Ruhmesblatt für den kritischen Journalismus dar.

28. November 2007
Leonid Luks
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

.


Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Politischer Realismus und Werturteile
von Bernhuard Sutor


Was ist totalitär? von Leonid Luks

Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch von Leonid Luks

Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland

"West-östlicher Brückenschlag?" Die mangelnde Berücksichtigung der Arbeiten osteuropäischer Historiker und ihre Folgen

Dieser Text basiert teilweise auf einem unveröffentlichten Leserbrief unter dem Titel „Ad fontes!“ an die Süddeutsche Zeitung (SZ). Am 24.05. teilte die SZ dem Autor mit, dass „es uns nicht möglich [war], […] Ihren Text abzudrucken. Aber unabhängig von einer Veröffentlichung lesen die Autoren oder die Ressortleiter alle Briefe und schätzen sie als Quelle nützlicher Anregungen. Wir sind Ihnen deshalb für Ihren Leserbrief dankbar.“ Es ist schön, dass die Autoren und Ressortleiter bereit sind „nützliche Anregungen“ aus dem Leserbrief, dessen Anlass Christian Jostmanns Artikel „Aufstand des Gewissens“ in der SZ vom 16.4.2007 war, zu ziehen, aber es ist gleichzeitig sehr bedauerlich, dass die Öffentlichkeit über den Umstand der Nichtbeachtung von Forschungsergebnissen osteuropäischer Historiker nicht informiert wurde und eine fragwürdige Sensation als solche im Gedächtnis der Leser bleibt.

Bei dieser fragwürdigen Sensation handelt es sich um die angebliche Neuentdeckung von Dokumenten des deutschen Widerstandes, die von Major im Generalstab (i.G.) Joachim Kuhn 1943 in der Nähe des Oberkommandos des Heeres (OHK) „Mauerwald“, Ostpreußen, in Glas- und Metalldosen vergraben worden waren. Von dort gelangten die Dokumente 1945 in die Hände des sowjetischen Sicherheitsdienstes und in dessen Moskauer Archiv. Peter Hoffmann veröffentlichte diese Dokumente nun in seinem Aufsatz „Oberst i.G. Henning von Tresckow und die Staatsstreichpläne im Jahr 1943“ in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (2/2007, 331-364), woraufhin die SZ von einem „spektakulären Archiv-Fund“ berichtete. Ähnliches findet sich in der WELT vom 18.04.2007. Dort bemerkt Felix Kellerhoff in seinem Artikel „Stauffenbergs Blaupause“ folgendes: „Anderthalb Jahre später, nachdem die Rote Armee Ostpreußen eingenommen hatte, kam der in Kriegsgefangenschaft geratene Major, […] Joachim Kuhn, mit dem sowjetischen Geheimdienst hierher und grub die Papiere wieder aus. Doch statt sie der Forschung zu übergeben, versteckten die Russen die Papiere, bis Peter Hoffmann jetzt darauf stieß.“

Leider entpuppt sich der spektakuläre Archivfund Peter Hoffmanns bei genauerer Betrachtung als nicht ganz so spektakulär, wie es die SZ und die WELT darstellten. Denn bedauerlicherweise vergisst Herr Hoffmann es zu erwähnen, dass die besagten Dokumente bereits 2001 vom Moskauer Historiker Boris Chavkin und dem Archivar Aleksandr Kalganov teilweise in der Zeitschrift FORUM für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte als Faksimile veröffentlicht worden sind (FORUM, 1/2001, S.355-358). Zudem wurden die Dokumente schon im Jahr 2000 im Artikel von Aleksandr Kalganov „Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944“ in dem Band Tajnye stranicy istorii (Geheime Seiten der Geschichte, Moskau, 2000, 308-316) auf Russisch publiziert.

Die Geschichte dieser Pläne ist durchaus „wert erzählt zu werden“, wie Jostmann in der SZ schreibt, allerdings bedarf die Erzählung der Erweiterung: Zum einen waren „die Russen“ nicht ganz so geheimniskrämerisch, wie Felix Kellerhoff schreibt, sondern übergaben die Dokumente bereits 1997 als Teil des Kuhn-Dossiers dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl als Geschenk, zum anderen war Peter Hoffmann, wie gesagt, bei weitem nicht der Erste. Boris Chavkin stieß auf die Dokumente als er zusammen mit Aleksandr Kalganov den Fall des deutschen Kriegsgefangenen Major Kuhn aufarbeitete. Dies führte u.a. zu einer weiteren Veröffentlichung im FORUM in der auch zum ersten Mal Kuhns „Eigenhändige Aussagen“, die Hoffmann wiederholt zitiert, in voller Länge veröffentlicht wurden (FORUM, 2/2001, S.355-402). Diese Arbeit wird von Peter Hoffmann zwar erwähnt, es wird allerdings nicht deutlich, dass es sich hier um die erste vollständige Veröffentlichung von Kuhns „Eigenhändigen Aussagen“ handelt. Es wäre wünschenswert, wenn die Arbeit der osteuropäischen Kollegen berücksichtigt und genutzt werden würde. Schließlich bietet das FORUM seit zehn Jahren hierfür Gelegenheit.

Gegenseitige Achtung, auch über Sprachgrenzen hinweg, sollte gerade unter Wissenschaftlern selbstverständlich sein.

John Andreas Fuchs
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt


Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Politischer Realismus und Werturteile
von Bernhuard Sutor


Was ist totalitär? von Leonid Luks

Die Effizienz der Autokratien ist oft trügerisch von Leonid Luks

"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs

Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


Is Putin's Russia really "fascist" ?
von Andreas Umland
"Lehrmeisterin des Lebens"? - Anmerkungen zur Auswertung von Geschichtserfahrungen

In seinem Artikel „Wildes Geschichtsdenken. Das Irak-Kriegsdesaster der Intellektuellen“ (Süddeutsche Zeitung vom 19. Februar 2007) vertritt Gustav Seibt die These, man könne aus der Geschichte nichts mehr lernen, „denn die neuzeitlich bewegte Geschichte mit ihrer unentwegten Veränderung aller Grundbedingungen des Daseins verhindert die Wiederkehr ähnlicher Konstellationen und Situationen“.

Diese Aussage ist erstens ausgesprochen unhistorisch, denn umwälzende Veränderungen gehören zum Wesen aller großen Epochen; was für die Neuzeit gilt, gilt auch für das Mittelalter und die Antike. Zweitens stellt der kulturpessimistische Satz, man könne aus der Geschichte nichts mehr lernen, die Staatsräson der Bundesrepublik weitgehend in Frage. Denn das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“, auf dem die “zweite“ deutsche Demokratie basiert, ist untrennbar mit den geschichtlichen Lehren verbunden, die aus dem Scheitern der „ersten“ Demokratie (Weimar) gezogen wurden. Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem von der unantastbaren Würde des Menschen die Rede ist, stellt seinerseits die Antwort der Väter des Grundgesetzes auf die beispiellose Mißachtung dieser Würde in der NS-Zeit dar. Und schließlich wären die europäischen Integrationsprozesse nach 1950 ohne die verheerenden Erfahrungen der beiden Weltkriege undenkbar gewesen. All das zeigt, daß die Weisheit von der Geschichte als der „Lehrmeisterin des Lebens“ keineswegs veraltet ist. Von der Geschichte könne man durchaus lernen, sagt der britische Historiker Lewis Namier, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man genug Phantasie und Intuition habe, um die vergangenen Erfahrungen nicht mechanisch auf völlig neue Situationen zu übertragen. Namier führt mehrere Beispiele für solch „mechanisches“ Geschichtsdenken an: So habe die Angriffstaktik des preußischen Generalstabes, die 1870 der französischen Armee eine verheerende Niederlage beigebracht hatte, auch viele Generäle zu Beginn des Ersten Weltkrieges inspiriert, was zu entsetzlichen Verlusten an der Westfront führte. Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges haben wiederum die französische Militärführung zum Bau der Maginot-Linie bewogen, die 1940 von der deutschen Wehrmacht ohne Probleme umgangen wurde. Dieses mechanistische Analogiedenken veranlaßt Namier zu folgendem Fazit: „Die früheren Erfahrungen werden rigide auf die neuen Situationen übertragen, und so sind die Vorbereitungen abgeschlossen, die bereits vergangenen Kriege erneut zu führen“ (L.B. Namier, Avenues of History, London 1952, S. 7)

Der britische Historiker weist aber zugleich darauf hin, daß auch ein anderer, kreativer Umgang mit der Geschichte möglich sei. So habe die Erinnerung an das Jahr 1918 – an den Sieg über das Wilhelminische Reich – es den Engländern erleichtert, das Jahr 1940, das zu den schwierigsten in der Geschichte des Landes zählte, zu überstehen.

Wenn man das Modell Namiers auf die heutige Zeit überträgt, so stellt der amerikanische Versuch, die westlichen Demokratiemodelle auf islamisch geprägte Länder auszudehnen, ein Beispiel für solch eine mechanische Übertragung von Geschichtserfahrungen auf neuartige Situationen dar. Dies wird von Gustav Seibt in seinem Artikel mit Recht kritisiert: „Der wünschenswerte Sturz Saddams wurde umstandslos mit dem Kampf gegen Hitler parallelisiert, die Demokratisierung des Iraks mit der Demokratisierung Westdeutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen, und die Chancen einer demokratischen Ausstrahlung auf den gesamten Nahen Osten legte man sich zurecht mit dem Ende des Ostblocks und der raschen Etablierung bürgerlicher Demokratien danach. Nur über den heutigen Irak und seine reale innere Lage wußte kaum jemand etwas zu sagen“.

Man könnte noch hinzufügen, daß die Verfechter solch mechanistischer Analogien folgendes außer acht ließen: Die Empfänglichkeit Deutschlands und der ehemals kommunistischen Staaten für demokratische Denkmodelle war nicht zuletzt damit verbunden, daß die Idee vom deutschen „Sonderweg“ durch Auschwitz und diejenige von der kommunistischen „lichten Zukunft“ durch den „Archipel Gulag“ völlig diskreditiert worden war. Angesichts dieses weltanschaulichen Vakuums war die Bereitschaft, westliche Ideen zu akzeptieren, besonders groß.

In der islamischen Welt hingegen läßt sich keine vergleichbare Erosion der traditionellen Wertvorstellungen beobachten. Im Gegenteil, nach einem vergeblichen Versuch, sich an solche westlichen Ideologien wie Nationalismus oder Marxismus anzulehnen, findet dort eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche religiöse Selbstverständnis statt. Die Ideen des durch und durch säkularisierten Westens rufen große Skepsis hervor.

Als Francis Fukuyama 1989 das „Ende der Geschichte“ verkündete, schienen alle Gefahren, die die offenen Gesellschaften bis dahin bedrohten, der Vergangenheit anzugehören. Das demokratisch-liberale Prinzip feierte Triumphe auf allen Kontinenten. Man fühlte sich an das Jahr 1918 erinnert als die demokratisch verfaßten Staaten einen beispiellosen Sieg über autoritäre Regime unterschiedlichster Art feierten und beinahe den ganzen Erdball, bis auf das isolierte Sowjetrußland, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Daß dieser Sieg keineswegs endgültig war, hat der einige Jahre später begonnene Siegeszug der diktatorischen Regime in Europa eindeutig gezeigt. Und auch die Wende von 1989 stellt bekanntlich kein „Ende der Geschichte“ dar. Die Terroranschläge vom 11. September 2001, die das 21. Jahrhundert einläuteten, haben dies deutlich vor Augen geführt.

Welche Schlußfolgerungen werden die Verfechter der „offenen Gesellschaft“ aus dieser „Rückkehr der Geschichte“ ziehen? Werden sie auf die Gefahren, die diese Gesellschaft erneut bedrohen, adäquat reagieren? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet hierfür viele Lösungsversuche, wenn auch keine Patentrezepte, die man mechanisch auf die Situationen von heute übertragen kann. Anders als Gustav Seibt schreibt, bleibt die Geschichte auch heute noch die vielleicht wichtigste „Lehrmeisterin des Lebens“. Allerdings nur für diejenigen, die im Sinne Lewis Namiers einen kreativen Umgang mit ihr pflegen.

6. Juni 2007
Leonid Luks
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt



Moskau und die Öffnung der Berliner Mauer,
von Leonid Luks


Bartoszewski auf dem Irrweg? von Jürgen Zarusky

Politischer Realismus und Werturteile
von Bernhuard Sutor


Was ist totalitär? von Leonid Luks

Verworrenes Geschichtsdenken
von Leonid Luks


"West-östlicher Brückenschlag"?
von John Andreas Fuchs


"Lehrmeisterin des Lebens"?
von Leonid Luks

Is Putin’s Russia really “fascist”?
A response to Alexander Motyl

In his articles “Is Putin’s Russia fascist?” published on the site of The National Interest Online on December 3, 2007 (http://www.nationalinterest.org/) and “Surviving Russia’s drift to fascism” published in the Kyiv Post, January 17, 2008 (http://www.kyivpost.com/opinion/oped/28182/), Professor Alexander Motyl of Rutgers University seems to argue that Putin’s Russia can be classified as a fascist state.

Many observers of Russia will be sympathetic to Prof. Motyl’s concern about the decline of democracy in Russia, and unsympathetic to the Kremlin`s policies of the last years. Nevertheless, Motyl`s comment on “Russia`s drift to fascism” appears unhelpful, if not misleading. Motyl obfuscates the issue of Russian fascism in so far as, indeed, there are representatives of fascism in Russia today. Yet, Putin is not among them.

Motyl is crying wolf too early. By Motyl`s standards, not only Nazi Germany and Fascist Italy, but a number of other non-democratic regimes of the 20th century would have to be classified as fascist. In fact, if we would apply Motyl´s loose conceptualization of fascism to contemporary world history, we might find so many “fascisms” that the term would loose much of its heuristic and communicative value.

Most people associate fascism with military conquest, total war and ethnic cleansing. While the Kremlin´s current rhetoric is imperialistic, bellicose and nationalistic, this is still far from amounting to an ideology of revolutionary ultra-nationalism – the most consensual definition of fascism available in international comparative fascist studies today (see, for instance, Fascism Past and Present, West and East: An International Debate on Concepts and Cases in the Comparative Study of the Extreme Right. Stuttgart & Hannover: ibidem-Verlag 2006). To be sure, it would be also wrong to argue – as Russian observers frequently do – that Russian fascism is identical with marginal neo-Nazi groups like Russkoe Natsional´noe Edinstvo (Russian National Unity). Without doubt, Russian fascism, represented by such figures as Vladimir Zhirinovskii or Alexander Dugin, reaches deeply into the mainstream of Russian high politics and public discourse. Yet, neither Zhirinovskii nor Dugin are members of the Russian presidential administration and government. While it cannot be excluded that a person like them might one day enter Moscow`s Kremlin or White House, this has not yet happened.

In this context, Motyl`s comment is in so far unconstructive as he deprives researchers of Russian nationalism of an important analytic tool. If Putin´s administration is fascist: How should one label all those Russian right-wing extremist who complain that its policies are still too liberal and pro-Western? If Russia is already fascist: What is the whole fuss about “Weimar Russia”? The Weimar Republic was, in its early phase, an unstable and unconsolidated, and its last years a declining and subverted democracy. But it was not fascist. While most researchers agree that the Weimar Republic was, after the World Economic Crisis, destined to collapse, it was until January 1933 unclear where this collapse would lead.

In Russia too, the outcome of Putin`s gradual destruction of democracy is still open. A regime inspired by fascist ideology is one of Russia´s, but, perhaps, not her most likely future. In assessing Russia´s fate today and in the next years, we should reserve the label “fascist” for only those scenarios that indeed deserve this most value-laden term of the 20th century.

17th January 2008

Andreas Umland
National Taras Shevchenko University of Kyiv