Leonid Luks

Gehört Rußland zu Europa? Anmerkungen zu einer

Kontroverse*

Gehört Rußland zu Europa? Diese Frage wird seit vielen Generationen, im Grunde seit Beginn der Neuzeit, leidenschaftlich diskutiert. Zu diesem Thema sind, vor allem in den beiden letzten Jahrhunderten, unzählige Abhandlungen erschienen. Dabei wird der Begriff „Europa“ oft mit dem Westen gleichgesetzt und dadurch außerordentlich verkürzt. Die Tatsache, daß Europa auch einen Osten hat, wird durch diese Betrachtungsweise außer acht gelassen. So entsteht die paradoxe Situation, daß solche Schriftsteller wie Tolstoj, Dostoevskij, Čechov und Pasternak, solche Philosophen wie Vladimir Solov´ev, Nikolaj Berdjaev und Semen Frank, Maler wie Kandinskij und Malevič, welche die europäische Kultur als solche außerordentlich bereichert haben, quasi aus dem gemeinsamen „europäischen Haus“ verbannt werden. Und diese Verbannung müßte sich eigentlich auch auf unzählige westliche Künstler und Schriftsteller erstrecken, deren Werke entscheidend durch die russische Malerei, Musik oder Literatur inspiriert wurden, so z.B. auf Thomas Mann, der in einer seiner Novellen sogar von der „anbetungswürdigen ..., heiligen russischen Literatur“ spricht. [1]


Andererseits wären Dostoevskij und Tolstoj ohne Cervantes, Rousseau oder Goethe unvorstellbar. So schließt sich der Kreis, und es wird offensichtlich, daß beide Teile Europas geradezu essentiell aufeinander angewiesen sind, und daß ihre allzu lange Trennung schmerzliche, ja verheerende Folgen für den Kontinent als solchen nach sich zieht.

Hans-Ulrich Wehler hat vor kurzem die angebliche Nichtzugehörigkeit Rußlands zu Europa damit begründet, daß das „orthodoxe Christentum sich noch immer zutiefst vom protestantischen und römisch-katholischen Europa unterscheidet.“ [2]

In der Tat. Das gemeinsame europäische Erbe wird im Osten nicht selten anders interpretiert als im Westen. So kannte zum Beispiel das östliche, von Byzanz dominierte Christentum nicht den Streit zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht, der die Frühgeschichte des Abendlandes sehr stark prägte und der zur Entstehung des bis heute vorherrschenden westlichen Pluralismus entscheidend beitrug. Prägend für das östliche Christentum – so für Byzanz und für Rußland – war hingegen der Begriff der „Symphonie“, der Eintracht zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht. Dort hat sich das „cäsaropapistische“ System etabliert, in dem die Kirche sich unter die Obhut der weltlichen Herrscher und damit in eine weitgehende Abhängigkeit von ihnen begab. Der politische Pluralismus westlicher Prägung hatte angesichts einer solchen Ausgangssituation wenig Entfaltungsmöglichkeiten.

In seinem FAZ-Artikel weist Hans-Ulrich Wehler auch mit Recht darauf hin, daß das östliche Christentum keine Reformation erlebt hat, und daß es durch die Aufklärung nur ansatzweise gestreift wurde. Die Liste der Unterschiede zwischen Ost und West ließe sich beliebig verlängern. Sind es aber nicht gerade diese Unterschiede, die die gegenseitige Befruchtung ermöglichen? Die ost-westliche kulturelle Symbiose ist gerade deshalb möglich, weil Europa ein janusköpfiges Gebilde darstellt – mit einem gemeinsamen Fundament und unterschiedlichen Gesichtern. Wäre der Osten nur eine Kopie des Westens oder umgekehrt, hätten sie voneinander kaum profitieren können. Welch fruchtbare Auswirkungen eine Begegnung zwischen Ost und West haben kann, offenbarte sich mit voller Deutlichkeit im 15. Jahrhundert, als viele byzantinische Flüchtlinge den italienischen Gelehrten und Künstlern dazu verhalfen, die Kultur der Antike, vor allem der griechischen Antike, neu zu entdecken.[3]

Der Byzantinist Georg Ostrogorsky schreibt:

„Der byzantinische Staat war das Gefäß, in welchem die Kultur der griechisch-römischen Antike durch die Jahrhunderte weiterlebte [...] Im Zeitalter der Renaissance, als die Sehnsucht nach der antiken Kultur die Menschheit mit größter Macht ergriff, fand die abendländische Welt in Byzanz die Quelle, aus der ihr die Kulturschätze der Antike zuströmten. Byzanz hat das antike Erbe aufbewahrt und dadurch eine welthistorische Mission erfüllt.“ [4]


Die zur Zeit der Renaissance erfolgte Begegnung zwischen Ost und West schien allerdings für lange Zeit nur eine Episode zu sein, denn die isolationistischen Tendenzen in beiden Teilen des Kontinents blieben weiterhin äußerst wirksam. Jeder Teil neigte dazu, sich als Ganzes zu sehen und strotzte geradezu vor Selbstzufriedenheit. Beispielhaft hierfür war das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Moskauer Großfürstentum bzw. Zartum, das nach dem Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 zum neuen Zentrum der Orthodoxie wurde.



II.


Im frühen Mittelalter stellte Rußland für den Westen eine durchaus bekannte Größe dar. Dynastische Verbindungen und Handelsbeziehungen zwischen der Kiever Rus´ und den westlichen Staaten waren damals recht intensiv. [5]
1240 geriet Rußland allerdings für beinahe zweieinhalb Jahrhunderte unter die Herrschaft der Tataren und verschwand weitgehend aus dem abendländischen Bewußtsein. Erst zu Beginn der Neuzeit, vor allem im 16. Jahrhundert wurde es neu entdeckt – also etwa zur gleichen Zeit wie Amerika. Viele Diplomaten, Kaufleute, aber auch Abenteurer gelangten nun nach Moskovien – so wurde Rußland damals genannt – und schrieben über das Erlebte Reiseberichte. In der Flut der damals erschienenen Reisebeschreibungen ragen insbesondere drei Werke heraus: die Schrift des österreichischen Gesandten in Rußland Sigmund Freiherr zu Herberstein vom Jahre 1549, das Werk des Jesuiten Antonio Possevino vom Jahre 1583 und der Bericht des englischen Diplomaten und Dichters Giles Fletcher, der im Jahre 1589 verfaßt wurde. Alle diese Autoren betrachteten Rußland als eine Despotie. Die Macht der Moskauer Herrscher war ihrer Ansicht nach durch keine Schranken begrenzt, ähnlich wie diejenige der türkischen Sultane. Herberstein schreibt: „Der Moskauer Großfürst verfügt aus freier Willkür über aller Leben und Gut. Von seinen Beratern hat keiner das Ansehen, um der Meinung des Herrn widersprechen zu dürfen. Sie bekennen offen: Des Fürsten Wille sei Gottes Wille, also was der Fürst tut, das tut er aus dem Willen Gottes.“ [6]

Auch Possevino und Fletcher sprechen von der Allmacht der russischen Herrscher, die beliebig über das Leben und den Besitz ihrer Untertanen verfügen könnten. Sie sprechen aber nicht nur von der Allmacht der Herrscher, sondern auch von der Sklavenmentalität der Beherrschten. Herberstein schreibt: „Das Volk ist von solcher Natur, das es sich der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freut. Sterbende lassen in ihren Verfügungen oft Leibeigene frei: diese bleiben selten in der Freiheit, sondern verkaufen sich dann selbst an andere Herren.“ [7]

Possevino fügt hinzu: man könnte meinen, dieses Volk sei dazu prädestiniert, in der Sklaverei zu leben, die Sklaverei scheint zu seiner zweiten Natur geworden zu sein. Da es sich an eine derartige Lebensform gewöhnt habe, verkläre es sie sogar und fühle sich den anderen Völkern überlegen. [8]

Indes vermittelten Herberstein, Possevino und andere westliche Beobachter kein adäquates Rußlandbild. Für sie war Rußland eine Art orientalische Despotie, weil sie dieses Land mit westlichen Maßstäben maßen. Viele Institutionen und Kräfte, die im Westen die Macht der Herrscher einschränkten, waren in Rußland entweder unzureichend entwickelt oder erfüllten eine ganz andere Funktion. Im Westen wurde die Macht der Monarchen vor allem durch die verbrieften Rechte der Stände, der Korporationen und der Kirche beschränkt. In Rußland konnte sich dieses System von „checks and balances“ nicht in einem solchen Ausmaß wie im Westen etablieren. Hier verkörperte beinahe ausschließlich der Monarch den Staat. Der russische Staat war nicht absolutistisch wie z.B. Frankreich unter der Herrschaft Ludwigs XIV., sondern autokratisch.

All das scheint viele westliche Beobachter, die Rußland als eine orientalische Despotie bezeichneten, zu bestätigen. In Wirklichkeit war aber auch die Macht der Zaren durchaus bestimmten Schranken unterworfen. So mußte z.B. das Verhalten des Zaren einem bestimmten Gerechtigkeitsideal entsprechen, er mußte nach Wahrheit streben. Dabei ist der russische Begriff „Wahrheit“, „pravda“, in westliche Sprachen nicht übersetzbar. Bei der Pravda handelte es sich um eine Art Synthese, die aus solchen Begriffen besteht wie Gerechtigkeit, Anstand, Wahrhaftigkeit und einiges mehr. Wenn der Zar diesem Ideal nicht entsprach, durfte ihm der Gehorsam verweigert werden. Der Mönch Iosif Volockij, dessen politisch-theologische Schriften zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine außerordentliche Verbreitung in Rußland fanden, sagt: „Dem Zaren, der den Willen Gottes erfüllt, muß man wie Gott dem Allmächtigen gehorchen. Aber wenn der Zar sich den Geboten Gottes widersetzt, dann ist er kein Zar mehr, sondern ein Peiniger und ein Diener Satans.“ [9]

Die Schranken der Macht waren in Rußland eher sittlicher als rechtlicher Natur. Deshalb waren sie für viele westliche Beobachter nicht erfaßbar. Abgesehen von diesen religiös-sittlichen Schranken wurde die Macht der Zaren durch das Gewohnheitsrecht, d.h. durch die Tradition, im Russischen „starina“, und durch den Einfluß des Hochadels – der „Bojaren“ – eingeschränkt, die das Recht hatten, den Zaren im Bojarenrat zu beraten. [10]

Wenn man all dies bedenkt, bleibt eine Frage unbeantwortet: Warum reagierte die russische Gesellschaft derart passiv auf die Terrorherrschaft des Zaren Ivan des Schrecklichen? Dieser Terror, der die letzten 20 Jahre der Herrschaft des Zaren begleitete – er starb im Jahre 1584 – hat sich zunächst gegen den Hochadel gerichtet, danach erfaßte er aber beinahe alle Schichten der Bevölkerung. Es gab zwar einzelne Protestakte gegen diese Orgien von Gewalt, sie blieben aber isoliert. Warum? Dies hatte nicht zuletzt mit dem eigentümlichen altrussischen Widerstandsrecht zu tun, dessen Kernsätze der bereits zitierte Iosif Volockij formulierte. Man durfte nur einem solchen Zaren den Gehorsam verweigern, der die Gebote Gottes verletzte. Ivan der Schreckliche beachtete aber peinlich genau alle kirchlichen Rituale, hielt sich selbst für einen tief religiösen Menschen. Wie der russisch-englische Historiker Cherniavsky sagte, tagsüber mordete, in der Nacht aber betete er. [11]

Die äußere Frömmigkeit und das Ritual spielten in der altrussischen Religiosität eine äußerst wichtige Rolle. Es gab zwar im damaligen Rußland auch religiöse Strömungen, die sich gegen dieses Verständnis der Religiosität wandten, die die Bedeutung der inneren Frömmigkeit hervorhoben. Dies waren vor allem die sog. Wolgastarzen um Nil Sorskij. [12] Sie konnten sich aber mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen.

In den bereits zitierten Berichten der westlichen Reisenden, die Moskovien zu Beginn der Neuzeit besuchten, spiegelt sich ein beispielloses Überlegenheitsgefühl der Westeuropäer Rußland gegenüber wider. Nicht anders verhielt es sich aber damals mit der Einstellung Rußlands zum Westen. Auch in Rußland war das Gefühl von der eigenen Auserwähltheit außerordentlich tief verankert. Symbolisiert wurde dieses Überlegenheitsgefühl durch die Theorie vom Moskau als dem „dritten Rom“. Nach dem Fall des alten Roms und von Byzanz, dem zweiten Rom, galt Moskau in den Augen vieler orthodoxer Christen als das dritte unvergängliche Rom.

Anders als oft vermutet, hatte die Theorie von Moskau als dem dritten Rom eher einen defensiven Charakter. Ursprünglich von Mönch Filofej zu Beginn des 16. Jahrhunderts formuliert, stellte sie einen Appell an den damals in Moskau herrschenden Großfürsten Vasilij III. dar, die Reinheit der Orthodoxie zu schützen und zu bewahren. Den Fall von Konstantinopel im Jahre 1453 führte der Mönch auf die Abkehr des byzantinischen Kaiserreiches von der reinen Lehre der Kirche und auf den moralischen Zerfall zurück. [13] Nach dem Untergang von Byzanz blieb Rußland als der einzige unabhängige Staat übrig, in dem noch der orthodoxe Glaube herrschte. Deshalb mußte es sich in eine unangreifbare Festung der Orthodoxie verwandeln. Der Moskauer Staat wurde nun von vielen politischen Denkern Rußlands als eine Art Abbild des Himmelreiches auf Erden betrachtet, als ein Staat, der auf Wahrheit beruhte („gosudarstvo pravdy“). [14] Die technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit Rußlands gegenüber dem Westen rief im Lande keine Minderwertigkeitskomplexe hervor, denn die Leistungen des Abendlandes galten im wesentlichen als irrelevant, da es keinen richtigen Glauben besaß.



III.


Allmählich begann allerdings der Moskauer Staat, der seit der Terrorherrschaft Ivans des Schrecklichen in außerordentliche Identitätsschwierigkeiten geraten war, an seiner Autarkie und Selbstzufriedenheit zu ersticken. Um die immer tiefer werdende kulturelle Stagnation zu überwinden, benötigte Rußland dringend kulturelle Anregungen von außen, und woher konnten sie sonst kommen, wenn nicht aus dem Westen? Es sei kein Zufall gewesen, daß Peter der Große, als er Rußland zu Beginn des 18. Jahrhunderts grundlegend reformieren wollte, das Fenster nicht nach Mekka, nicht nach Lhasa, sondern nach Europa geöffnet habe, sagt in diesem Zusammenhang der russische Kulturhistoriker Vladimir Vejdle. Peters Vision sei zwar ausschließlich technokratischer Natur gewesen, so Vejdle, er habe die Kultur mit der technischen Zivilisation gleichgesetzt. Intuitiv habe er indes durch die Wiederherstellung der Einheit der europäischen Welt den für die russische Kultur fruchtbarsten Entwicklungsweg gewählt. Die beispiellosen kulturellen Leistungen des Petersburger Rußland im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien die Folge der petrinischen Umwälzung gewesen. Vejdle sieht keine Alternative zum petrinischen Programm. Die Abwendung von Europa sei für Rußland unmöglich, so Vejdle, weil es infolge seiner Christianisierung zum unverzichtbaren Teil der europäischen Kultur geworden sei. Aber auch für den Westen könne der Verlust Rußlands unabsehbare Folgen haben, denn Rußland verkörpere nach dem Untergang von Byzanz die Tradition des östlichen Christentums, von dem der Westen immer wieder Impulse für seine Erneuerung erhalte. Vejdle hält sowohl russische als auch westliche Isolationisten, die beide Teile Europas durch eine undurchdringliche Mauer trennen und Rußland nach Asien verbannen wollen, für Vereinfacher, die den Europabegriff außerordentlich verkürzten und den Blick für die Komplexität der europäischen Kultur verlören. [15]

Die Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit der russischen Gesellschaft gingen mit den Umwälzungen Peters des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen brach jetzt eine Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, das Abbild des Himmelreiches auf Erden, sondern lediglich ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst zivilisiert werden mußte. Keine andere Revolution in der Geschichte des Landes, nicht einmal die bolschewistische, erschütterte die bestehende Wertehierarchie so stark, wie die petrinische. Die russischen Herrscher maßen nun das Reich lediglich mit den abendländischen Kriterien der Effizienz. Das Land begab sich auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen. Von einem ausgesprochenen Sendungsbewußtsein konnte angesichts dieser Sachverhalte keine Rede mehr sein.

Im 18. Jahrhundert wurden russische Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina II., zu Lieblingen der westlichen Aufklärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens halbbarbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert.

Aber auch Kritiker des petrinischen Werks meldeten sich damals zu Wort. Jean-Jacques Rousseau warf dem Zaren vor, er habe seine Untertanen zu früh europäisiert: „Er sah die Roheit seines Volkes, sah jedoch nicht, daß es für höhere Gesittung noch nicht reif war; er wollte es zivilisieren, als es erst der Zucht bedurfte.“

Und dann entwickelt Rousseau folgende düstere Vision: „Die Tataren, seine Untertanen oder Nachbarn, werden seine und unsere Herren werden; diese völlige Umwälzung scheint mir unabwendbar. Alle Könige Europas arbeiten einmütig daran, sie zu beschleunigen.“ [16]

Diese Prognose hatte mit der politischen Wirklichkeit nur wenig gemeinsam. Die Zarenmonarchie entwickelte sich infolge der petrinischen Umwälzung zu einem gleichberechtigten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, war in der Regel loyaler Verbündeter ihrer westlichen Koalitionspartner, und auch bei genauerem Hinsehen konnte man keine Merkmale entdecken, die auf eine unversöhnliche Gegnerschaft des Petersburger Rußland zum Abendland hinwiesen. Mehr noch. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug das Zarenreich entscheidend dazu bei, daß der napoleonische Versuch, das europäische Gleichgewicht zu zerstören, scheiterte.

Erst nach dem Sieg des Zarenreiches über Napoleon sollte sich die Einstellung der westlichen Öffentlichkeit zu Rußland schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Rußland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen. In der westlichen Öffentlichkeit galt es jetzt beinahe als Axiom, daß Rußland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe. Russische Hegemonialbestrebungen wurden nicht selten als gefährlicher denn diejenigen des napoleonischen Frankreich angesehen, weil Rußland als eine nicht-europäische Macht galt. Es stellte nach Ansicht vieler Westeuropäer nicht nur eine militärische und politische, sondern auch kulturelle Herausforderung dar. Es gefährde die okzidentale Art als solche, wurde wiederholt betont. [17]

Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden antirussischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der 1836 in der Moskauer Zeitschrift „Teleskop“ erschienene „philosophische Brief“ des russischen Denkers Petr Čaadaev dar, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Geschichte einleitete. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Čaadaev in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Rußland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt: „Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt.“ [18]

Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Rußlands als einer europäischen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigenart, den sogenannten „Westlern“, massiv in Frage gestellt. Čaadaev läßt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigenart trug zweifellos dazu bei, daß viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten ungerechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine nicht weniger emotionale, oft unkritische Apologie zu Folge. Typisch hierfür waren die Gedankengänge der slawophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik mit den Thesen Čaadaevs und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.[19]

Im Gegensatz zu Čaadaev betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sie von der des Westens unterschied, keineswegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegenteil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Čaadaev, ähnlich wie andere Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß. Die Orthodoxie, so die Slawophilen, postuliere eine völlig andere Gesellschafts- und Staatsordnung als der Katholizismus bzw. Protestantismus. In ihrem Zentrum liege der Gedanke der Harmonie, der organischen Gemeinschaft (sobornost’). Dieser Gedanke söhne das Individuum mit dem Kollektiv, den Herrscher mit den Beherrschten aus. Im Mittelpunkt der westlichen Kultur hingegen stünden Egoismus, Konflikt und Gewalt. [20]

Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Rußland übertrugen, wurden von den Slawophilen als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie zurück, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Rußland verwirklicht gewesen sei.

Diese Verklärung des alten Rußland wurde von den russischen Westlern leidenschaftlich bekämpft. Mit wissenschaftlicher Akribie wiesen sie nach, wie sehr sich die damalige russische Wirklichkeit von dem von den Slawophilen entworfenen Bild unterschied. [21]
Und in der Tat hält die Verklärung der altrussischen Gesellschaft durch die Slawophilen einer historischen Prüfung nicht stand. Soziale Spannungen und zahlreiche Bauernaufstände im vorpetrinischen Rußland weisen darauf hin, daß die altrussische Gesellschaft keineswegs ein Harmonieideal verkörpert hatte. Trotzdem enthielten die Thesen der Slawophilen einen Wahrheitskern. Zwar wich die altrussische Wirklichkeit erheblich von dem hier beschriebenen Harmonieideal ab, dennoch bildete dieses Ideal einen wichtigen Bestandteil der politischen Doktrin des Moskauer Rußland. Dies konnte auch für die soziale und politische Wirklichkeit nicht ohne Folgen bleiben.


IV.


Die Infragestellung westlicher Werte durch die Slawophilen ereignete sich ausgerechnet in der Zeit, in der auch manche westliche Denker von Selbstzweifeln geplagt wurden. Pessimistische Strömungen nahmen hier nach der Bezwingung des napoleonischen Frankreich außerordentlich an Stärke zu. Überall war von der Dekadenz, vom Verwelken der westlichen Kultur die Rede. Einige westliche Intellektuelle blickten mit Hoffnung auf den scheinbar noch vitalen, „unverbrauchten“ Osten. So erwartete der Münchener Theologe Franz von Baader von Rußland Impulse für die Errettung des westlichen Christentums. 1841 schrieb er: „Gottes Fürsorge hielt die russische Kirche von der europäischen Weltbewegung, somit auch von der Bewegung zur Dechristianisierung sowohl der Wissenschaft als auch der bürgerlichen Societät bis dahin fern.“ Daher sei diese Kirche, so Baader, „im Stande ..., befreiend auf das Abendland rückzuwirken.“ [22]

Für andere Autoren stellte der Aufstieg Rußlands angesichts der westlichen Dekadenz einen Alptraum dar. Dazu der leidenschaftliche Verfechter des Ancien régime, der Spanier Donoso Cortès:

„Wenn es [...] in Europa keine stehenden Heere mehr gibt, weil die Revolution sie aufgelöst hat, wenn es in Europa keine Vaterlandsliebe mehr gibt, weil die sozialistische Revolution sie ausgerottet hat, [...] dann, meine Herren, dann hat die Stunde Rußlands geschlagen. Dann kann der Russe gemächlich und mit dem Gewehr unter dem Arm durch unser Vaterland spazieren.“ [23]


Es soll in diesem Zusammenhang ein in der Geschichte des Abendlandes relativ neues Phänomen erwähnt werden, nämlich das Nachlassen des europäischen Sendungsbewußtseins. Die Westeuropäer erkannten, damals eigentlich zum ersten Mal, die Gefahren, welche die Europäisierung von Ländern außerhalb des Abendlandes mit sich brachte. Im optimistischen und fortschrittsgläubigen 18. Jahrhundert war die Übernahme der westeuropäischen Modelle durch Rußland als Beweis für die Überlegenheit der abendländischen Kultur betrachtet worden. Nicht zuletzt deshalb verlief damals die Eingliederung Rußlands in das europäische Staatensystem relativ reibungslos. Hundert Jahre später empfand man im Westen das Verbleiben Rußlands in diesem System als eine Gefahr für die Zivilisation. Die Europäisierung Rußlands hatte nach Ansicht vieler westlicher Beobachter lediglich dazu geführt, daß die russische Oberschicht nun über die neuesten westlichen Herrschaftsmittel und Technologien verfüge, die sie ihrerseits gegen den Westen anwende. Zugleich stehe den russischen Herrschern eine anspruchslose und gehorsame, von den europäischen Ideen unberührte Volksmasse zur Verfügung, die sich dafür anzubieten schien, beliebig eingesetzt zu werden, selbst für das Ziel einer Weltherrschaft. Es ist kein Wunder, daß dies in den Augen des Westens Rußland eine gewaltige Überlegenheit verlieh.

In der industriellen Revolution, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die westlichen Länder mit voller Wucht erfaßte, sahen viele Denker keineswegs etwa die Quelle künftiger Stärke, sondern eher ein schwächendes Moment. Die soziale bzw. die Arbeiterfrage schien damals unlösbar. Der proletarische Juniaufstand von 1848 in Paris, der außerordentlich brutal unterdrückt worden war, galt nun als Vorbote erbitterter Klassenkämpfe. Rußland dagegen hatte kein Proletariat, die industrielle Revolution hatte es nur am Rande gestreift. Und so wirkte dieser innerlich homogene Koloß auf den von inneren Spannungen zerrissenen Westen um so bedrohlicher. [24]



V.



1853 brach der vielbeschworene Kampf zwischen Ost und West – der Krimkrieg – aus. Es war ein Kampf um die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts, ein Kampf gegen eine Macht, der man Welteroberungspläne zuschrieb. Solche Kämpfe werden normalerweise bis zum bitteren Ende geführt, so der englische Historiker Lewis Namier. [25]
Dabei ging es bei diesem Krieg nicht nur um die Wiederherstellung des politischen Gleichgewichts, sondern angeblich auch um die Verteidigung der „heiligsten Güter der abendländischen Zivilisation.“

Der russische Zar, Nikolaus I., wurde zu einem östlichen Barbaren stilisiert, der mit der europäischen Tradition nichts gemein habe. [26]
In Wirklichkeit sollte es sich beim Krimkrieg um einen konventionellen, begrenzten Krieg handeln, bei dem keine Seite „aufs Ganze“ ging. Ständige diplomatische Verhandlungen begleiteten ihn, beide Seite bewegten sich auf der gleichen Ebene des Völkerrechts. Zwischen den napoleonischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg ist kein Krieg um die Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts ähnlich glimpflich verlaufen. Anders als Napoleon oder die deutsche Führung im Ersten und im Zweiten Weltkrieg dachte die zarische Regierung nicht in der Alternative: Alles oder Nichts, sie verbrannte nicht alle Brücken hinter sich. Zwar wurde der Krimkrieg durch eine für die damalige russische Außenpolitik recht untypische unvorsichtige Handlungsweise ausgelöst. Als jedoch der Petersburger Führung klar wurde, wie falsch sie die Reaktion des Westens auf ihr Vorgehen eingestuft hatte, versuchte sie durch Nachgiebigkeit, den Schaden zumindest in Grenzen zu halten. Den Gegnern der Hegemonialmacht gelang es, ohne die totale Mobilisierung ihres Machtpotentials, nur mit einem Bruchteil ihrer Kräfte, diese Macht zu bezwingen. [27]

Nach der Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg wurde die Frage nach der Stellung Rußlands in Europa in der russischen Öffentlichkeit höchst unterschiedlich beurteilt. Einige hielten den Ost-West-Gegensatz für unüberbrückbar und den nächsten Waffengang für unvermeidlich. Zu ihnen zählte Nikolaj Danilevskij, der 1869 ein vielbeachtetes Buch „Rußland und Europa“ veröffentlicht hatte. [28]
Viele betrachten Danilevskij als einen Vorläufer Oswald Spenglers, denn er entwickelte eine Lehre vom biologischen Alter der Kulturen, die nach der Vollendung eines bestimmten Zyklus von der geschichtlichen Bühne abtreten. Die romanisch-germanische Kultur befand sich nach Ansicht Danilevskijs bereits im Stadium des Verfalls und die ihr wesensfremde slawische in einem Aufstieg. Antirussische Emotionen im Westen führte Danilevskij in erster Linie auf diese Wesensfremdheit, auf kulturtypologische Unterschiede zurück. Mit einer atemberaubenden Selbstgerechtigkeit schilderte er das Anwachsen des russischen Imperiums in den letzten Jahrhunderten und verlieh ihm eine völlig andere Qualität als den Eroberungen der Westmächte. Nicht anders argumentierten damals auch die deutschen, die französischen oder die englischen Nationalisten. Die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes durch Danilevskij entsprach durchaus dem Geist der Zeit. Auch in einem anderen Punkt paßte sich sein panslawistisches Konzept an die geistige Atmosphäre der Epoche an. Im Gegensatz zu seinen slawophilen Vorgängern verzichtete er im wesentlichen auf religiöse bzw. universalistische Begründung seiner Sendungsidee. Sie zeichnete sich in erster Linie durch einen biologistischen Determinismus aus.

Insofern unterschied sie sich grundlegend von dem Konzept Fedor Dostoevskijs, der von einer universalen religiösen Sendung des Russentums sprach; die russische Orthodoxie sollte die gesamte Christenheit erneuern. Dennoch stimmte Dostoevskij mit Danilevskij vor allem in einem Punkt überein. Auch er war nämlich von einer abgrundtiefen Abneigung des Westens gegen Rußland überzeugt. 1877 schrieb er: „Über Rußland [...] verbreitet man jetzt selbst in den gebildetsten Staaten den größten Unsinn. Auch früher kannte man uns in Europa wenig, sogar so wenig, daß man sich immer nur wundern mußte, wie dermaßen aufgeklärte Völker so wenig bestrebt sein konnten, jenes Volk kennenzulernen, das sie doch alle von jeher hassen und fürchten.“ [29]

Als Dostoevskij diese Worte schrieb, klangen sie bereits etwas anachronistisch. Nach der Niederlage im Krimkrieg galt das Zarenreich nicht mehr als unbesiegbar bzw. als Garant der bestehenden Ordnung in Europa. Die westliche Rußlandfurcht ließ eindeutig nach. Das vereinte Deutschland übernahm die Nachfolge Rußlands als Anwärter auf die europäische Hegemonie. Der Ost-West-Gegensatz verlor damals die Brisanz, die ihn bis dahin ausgezeichnet hatte, und dies trug dazu bei, daß Rußland sich in einem viel stärkeren Ausmaß als bisher gegenüber den westlichen Ideen und Strömungen öffnete. Der Siegeszug des Liberalismus, der in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz Europa erfaßte, dehnte sich auch auf das Zarenreich aus. Kräfte, die auf einen russischen Sonderweg Wert legten, befanden sich in immer größerer Bedrängnis. Viele liberale Kreise im Lande sahen in der Niederlage im Krimkrieg nicht in erster Linie die nationale Schmach, sondern die Befreiung vom despotischen Regime Nikolaus‘ I., der in den Jahren 1825–1855 Rußland mit eiserner Faust regiert hatte. Ein russischer Sieg hätte das bestehende, unerträglich gewordene System lediglich gefestigt, schrieb nachträglich einer der führenden Vertreter des russischen Liberalismus, Boris Čičerin. Er verglich die Niederlage des Zarenreiches mit derjenigen Preußens von 1806. In beiden Fällen sei die Niederlage in erster Linie den Unterlegenen zugute gekommen. Ohne das offensichtliche Versagen des alten Systems wären große Reformen in beiden Staaten kaum denkbar gewesen. [30]
Čičerin hielt, ähnlich wie viele andere russische Westler, die These von einer russischen Sendung für völlig abwegig. Rußland war in seinen Augen Bestandteil der europäischen Völkergemeinschaft und seine Eigenart bestand lediglich in seiner Rückständigkeit. Es habe keine andere Wahl, als dem von den fortschrittlichen westlichen Ländern gewiesenen Weg konsequent zu folgen. [31]
Solche Thesen wurden von manchen konservativen russischen Staatsmännern und Denkern des ausgehenden 19. Jahrhunderts leidenschaftlich bekämpft, so von Konstantin Leont´ev und von Konstantin Pobedonoscev. [32]
Um Rußland von den aus dem Westen stammenden Ideen abzuschirmen, wollten sie es, wie sie es selbst formulierten, in seiner Entwicklung „einfrieren“. Jedoch standen sie auf verlorenem Posten.



VI.



Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Westler den Konflikt mit den Slawophilen und Panslawisten endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Rußland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Die Reformen Sergej Wittes (Finanzminister 1891–1903) und Petr Stolypins (Ministerpräsident 1906–1911) veränderten grundlegend das wirtschaftliche und soziale Gefüge des Landes. Beide Staatsmänner versuchten, den kapitalistischen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen und vormoderne Denk- und Verhaltensstrukturen zurückzudrängen. Einen ähnlichen „Modernisierungsprozeß“ erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der „Fin de siècle“-Stimmung erfaßt; die russische Avantgarde stellte einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen. Übersehen wurde von der Mehrheit nur die Tatsache, daß die russischen Unterschichten sich an diesen neuen Denkprozessen kaum beteiligten. Erst während der Revolution von 1917 offenbarte sich dieser Sachverhalt in voller Deutlichkeit. Das Ausmaß der Kluft zwischen der europäisierten Oberschicht und dem einfachen Volk wurde für alle sichtbar. Die Debatte zwischen den Westlern und den Slawophilen erlebte nun, diesmal vorwiegend in der russischen Emigration, eine Neuauflage. Erneut wurde die Frage nach der Zugehörigkeit Rußlands zu Europa leidenschaftlich diskutiert. In Rußland selbst, unter den Bedingungen der bolschewistischen Diktatur, war eine offene Diskussion über diese Fragen nicht mehr möglich. Über den Sinn der russischen Geschichte durfte nun die Partei allein reflektieren, einen Dialog mit sich ließ sie nicht zu.

Der Sieg der bolschewistischen Revolution lieferte auch der westlichen Diskussion über die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa zusätzliche Impulse. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb 1925, die bolschewistische Herrschaft habe die Re-Asiatisierung Rußlands zur Folge gehabt. Rußland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst. [33]

Als Alfred Weber diese Worte schrieb, bahnte sich gerade in Deutschland eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes an, die den gesamten Kontinent in einen noch tieferen Abgrund stürzen sollte, als dies die bolschewistische Revolution getan hatte. Die russische Katastrophe von 1917 stellte also nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der gesamteuropäischen Krise dar. Man darf auch nicht vergessen, daß die soziale Utopie, welche die Bolschewiki in Rußland zu verwirklichen suchten, westlichen Ursprungs war.

Aleksandr Kerenskij, der letzte Ministerpräsident der von den Bolschewiki am 7. November 1917 gestürzten Provisorischen Regierung, berichtet über ein Gespräch, das er 1923 mit einem der führenden deutschen Sozialdemokraten, Rudolf Hilferding, führte. Hilferding konnte nicht verstehen, warum die russischen Demokraten derart hilflos auf den bolschewistischen Staatsstreich reagiert hatten: „Wie konnten Sie die Macht verlieren, wenn Sie sie völlig in der Hand hatten? Das wäre [in Deutschland] nicht möglich!“, meinte der deutsche Politiker und dann fügte er hinzu: „Ihr Volk ist nicht fähig, in Freiheit zu leben.“ Elf Jahre später, so Kerenskij, sei Hilferding ebenfalls auf der Flucht gewesen, um sich dem Zugriff eines anderen

totalitären Regimes zu entziehen: „Damals mußte er aus [...] dem Munde eines führenden französischen Sozialisten dasselbe über die Deutschen sagen hören.“ [34]

Diese deutsch-russischen Parallelen zeigen, daß der Zusammenbruch der „ersten“ russischen Demokratie keineswegs auf den „asiatischen“ Charakter Rußlands zurückzuführen war, wie Alfred Weber dies angedeutet hatte. Und auch die Bolschewiki selbst waren ihrem Selbstverständnis nach „Europäer.“ Wenn sie von der proletarischen Weltrevolution träumten, dann bezog sich diese ihre Vision in erster Linie auf die hochentwickelten Industrienationen des Westens. Was Rußland anbetrifft, so verwandelten sie das von ihnen beherrschte Land in ein Experimentierfeld zur Verwirklichung von Ideen, die sie für die höchste Ausprägung des europäischen Geistes hielten. Ihrem Selbstverständnis nach setzten sie auch das Werk Peters des Großen fort, indem sie die „rückständigen“ russischen Strukturen zu modernisieren und zu „europäisieren" suchten.

Die Folgen ihrer Handlungen waren allerdings denjenigen ihres großen Vorgängers geradezu entgegengesetzt. Peter der Große hatte die Kluft zwischen Ost und West überwunden, die Bolschewiki hingegen schotteten Rußland erneut von der Außenwelt ab. Das Land wurde wieder, ähnlich wie der Moskauer Staat im 16. und im 17. Jahrhundert, autark und verlor den Anschluß an die Moderne. Das gleiche Schicksal ereilte auch die Vasallenstaaten Moskaus, die ab 1945 zum Bestandteil des „äußeren Sowjetimperiums“ werden sollten.



VII.



Um so erstaunlicher waren die Prozesse, die sich auf dem Kontinent in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts anbahnten. Zwei Teile Europas, die siebzig Jahre lang voneinander getrennt gewesen waren, begannen zusammenzuwachsen. Ein Teil der russischen Eliten wurde nun von der Sehnsucht erfaßt, nach Europa zurückzukehren. Und es wäre völlig verfehlt, diese Sehnsucht als „romantische Schwärmerei“ abzutun, wie dies gelegentlich geschieht. Denn sie hatte ganz konkrete politische Folgen. Das politische Wunder der friedlichen Revolution von 1989, die Überwindung der europäischen Spaltung und die deutsche Einheit wären ohne diese „Sehnsucht“ und ohne den Verzicht des Reformflügels in der Gorbačev-Equipe auf die „Brežnev-Doktrin“, die der Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses" eklatant widersprach, undenkbar gewesen.

Die Euphorie der Jahre 1989–91 ist inzwischen verflogen. Isolationistische Kräfte sowohl im Westen als auch im Osten, die den europäischen Charakter Rußlands in Frage stellen, nehmen an Stärke zu. Die russischen „Europäer“, denen der Kontinent die friedliche Überwindung seiner jahrzehntelangen Kluft im wesentlichen verdankt, geraten in ihrer Auseinandersetzung mit den einheimischen „National-Patrioten“ in die Defensive – dies ungeachtet der prowestlichen Wendung der Regierung Putin nach den apokalyptischen Terrorakten vom 11. September. Auf der anderen Seite haben die Umwälzungen von 1989-91 auf dem Gebiet der europäischen Integration eine solche Fülle von vollendeten Tatsachen geschaffen, daß eine erneute Trennung der beiden Teile des Kontinents immer unvorstellbarer wird. Es geht jetzt nur um die Vertiefung der bereits vorhandenen Verbindungen. Dabei können die Verfechter der „Kerneuropa“-Idee ruhig schlafen. Denn die Aufnahme Rußlands in die Europäische Union steht für die Mehrheit der russischen „Europäer“ nicht auf der Tagesordnung. Es gibt auch andere Formen des Zusammenwirkens zwischen den beiden Teilen des Kontinents, die dazu beitragen könnten, den Prozeß der Überwindung der europäischen Spaltung unumkehrbar zu machen.


* Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte und aktualisierte Fassung eines Vortrages, der im Rahmen eines Eichstätter Symposiums zum Thema „Globalisierung und europäische Identität“ gehalten wurde. Siehe dazu auch meinen Aufsatz „Russland und der Westen – Zur Geschichte eines schwierigen ‚innereuropäischen’ Verhältnisses“, in: Michler, Andreas / Schreiber, Waltraud (Hrsg.): Blicke auf Europa. Kontinuität und Wandel. Neuwied 2003, S. 215-233.

[1] Mann, Th.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt am Main 1990, hier Bd. 8, S. 300, Bd. 10, S. 595.

[2] Wehler, H.-U.: Laßt Amerika stark sein! Europa bleibt eine Mittelmacht: Eine Antwort auf Jürgen Habermas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.6.2003.

[3] Burckhardt, J.: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Stuttgart 1976, S. 182f., 194, 205

[4] Ostrogorsky, G.: Geschichte des byzantinischen Staates. München 1963, S. 473.

[5] Vgl. dazu u.a. Donnert, E.: Rußland (860-1917). Von den Anfängen bis zum Ende der Zarenzeit. Regensburg 1998, S. 21f.

[6] Herberstein, S. v.: Das alte Rußland. Zürich 1984, S. 61f..

[7] Ebenda, S. 134.

[8] Possevino, A.: Moskovskoe posol´stvo, in: Ders.: Istoričeskie sočinenija o Rossii XVI veka. Moskau 1983, S. 24, 48f.; siehe dazu auch Fletcher, G.: Of the Russe Comonwealth, in: Russia at the Close of the Sixteenth Century. Works issued by the Haklyut Society o.O o.J., S. 26-29, 44f.; In seinem Buch über das englische Rußlandbild im 16. Jahrhundert schreibt Karl Heinz Ruffmann: „Die carische Regierungsform und Regierungsweise erschien den Engländern fremdartig, barbarisch und unchristlich“ (Ruffmann, K.H.: Das Rußlandbild im England Shakespears. Göttingen 1952, S. 82). Recht verbreitet war im damaligen Europa, nicht zuletzt in Polen, die These vom „asiatischen“ Charakter des Moskauer Großfürstentums. So setzt z.B. der polnische Geograph Johannes von Glogau im Jahre 1494 Moskau mit dem „asiatischen Sarmatien“ gleich (Klug, E.: Das „asiatische“ Rußland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils, in: Historische Zeitschrift, Band 245, 1987, S. 265-289, hier S. 273).

[9] Zimin, A./Lur´e, J., Hrsg.: Poslanija Iosifa Volockogo. Moskau-Leningrad 1959, S. 184.; siehe dazu auch Val´denberg, V.: Drevnerusskie učenija o predelach carskoj vlasti. Petrograd 1916, S. 213f.; D´jakonov, M.: Vlast´moskovskich gosudarej. Očerki iz istorii političeskich idej drevnej Rusi do konca 16 veka. St. Petersburg 1889, S. 95-99; Budovnic, I.: Russkaja publicistika XVI veka. Moskau 1947, S. 97.

[10] Vgl. Skrynnikov, R.: Ivan Groznyj. Moskau 1975, S. 95; Ders.: Der Begriff Selbstherrschaft (samoderžavie) und die Entwicklung ständisch-repräsentativer Einrichtungen in Rußland des 16. Jahrhunderts, in: Halbach, U./Hecker, H./Kappeler, A. Hrsg.: Geschichte Altrußlands in der Begriffswelt ihrer Quellen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Günther Stökl. Stuttgart 1986, S. 15-31, hier S. 17, 20.

[11] Cherniavsky, M.: Khan or Basileus. An Aspect of Russian Medievel Political Theory, in: Ders.: The Structure of Russian History. Interpretative Essays. New York 1970, S. 74.

[12] Lilienfeld, F.v.: Nil Sorskij und seine Schriften. Die Krise der Tradition im Rußland Ivans III. Berlin 1963; Smolitsch, I.: Russisches Mönchtum. Entstehung, Entwicklung und Wesen. 988-1917. Amsterdam 1978, S. 107-114; Fedotov, G.: Svjatye drevnej Rusi. Paris 1931, S. 166-175; Florovskij, Georgij: Puti russkogo bogoslovija. Paris 1983, S. 20-24.

[13] Vgl. dazu Poslanija starca Filofeja, in: Pamjatniki Literatury Drevnej Rusi. Konec XV- pervaja polovina XVI veka, hrsg. v. Dmitriev, L./Lichačev, D., Moskau 1984, S. 436-455; Andreyev, N.: Filofey and his Epistle to Ivan Vasilyevitch, in: Slavonic and East European Review, 1959, S. 1-31; Florovskij: Puti, S. II; Hösch, E.: Orthodoxie und „Rechtgläubigkeit” im Moskauer Rußland, in: Halbach u.a.: Geschichte Altrußlands, S. 50; Philipp, W.: Die gedankliche Begründung der Moskauer Autokratie bei ihrer Entstehung, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 15, 1970, S. 115; Zimin, A.: Rossija na poroge novogo vremeni. Očerki političeskoj istorii Rossii pervoj treti XVI veka. Moskau 1972, S. 340ff.

[14] Vgl. dazu u.a. Luks, L.: Gosudarstvo pravdy. Rossija i Zapad na poroge novogo vremeni, in: Ders.: Tretij Rim? Tretij Rejch? Tretij put´? Istoričeskie očerki o Rossii, Germanii i Zapade. Moskau 2002, S. 6-32.

[15] Vejdle, V.: Zadača Rossii. New York 1956.

[16] Rousseau, J.-J.: Der Gesellschaftsvertrag. Stuttgart 1971, S. 51f.

[17] Siehe dazu u.a. Tschižewskij, D. / Groh, D.: Europa und Rußland.Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses. Darmstadt 1959; Groh, D.: Rußland und das Selbstverständnis Europas. Ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte. Neuwied 1961, S. 3, 14f., 97, 319ff.; Gleason, J. H.: The Genesis of Russophobia in Great Britain. A Study of Interaction of Policy and Public Opinion. Cambridge Mass. 1950; McNally, R. T.: Das Rußlandbild der französischen Publizistik zwischen 1814 und 1843, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 6, 1958, S. 82-169; Ders.: The Origins of Russophobia in France: 1812-1830, in: The American Slavic and East European Review 17, 1958, S. 173-189; Müller, L.: Das Rußlandbild der deutschen politischen Flugschriften, Reisewerke und Nachschlagewerke und einiger führender Zeitschriften und Zeitungen während der Jahre 1832-1853. Diss. München 1953; Anderson, M.S.: The Ascendancy of Europe. Aspects of European History 1815-1914. London 1972, S. 6f.; Oberländer, E.: Das “Testament” Peters des Großen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 21, 1973, S. 46-60.

[18] Čaadaev, P.: Filosofičeskie pis´ma adresovannye dame. Pis´mo pervoe, abgedruckt in: Russkoe obščestvo 30-ch godov XIX v. Ljudi i idei. Memuary sovremennikov, Red. I.A.Fedosov. Moskau 1989 (deutsche Übersetzung in: Tschižewskij / Groh, Europa, S. 84).

[19] Siehe u.a. Berdjaev, N.: Russkaja ideja. Osnovnye problemy russkoj mysli XIX veka i načala XX veka. Paris 1971; Zen´kovskij, V.: Russkie mysliteli i Evropa. Kritika evropejskoj kul´tury u russkich myslitelej. 2. Aufl. Paris 1955; Riasanovsky, N.V.: Russia and the West in the Teachings of Slavophiles. A Study of Romantic Ideology. Harvard University Press 1952; Ders.: Nicholas I and official Nationality in Russia 1825-1855. Berkeley 1959; Ders.: A Parting of Ways. Government and the educated Public in Russia in 1801-1855. Oxford 1976; Christoff, P.K.: An Introduction to Nineteenth-Century Russian Slavophilism, 3 Bände (Bd.1 A.S. Xomyakov, Bd.2 I.V.Kireevskij, Bd.3 K.S. Aksakov), S.-Gravenhage-Princeton/N.J., The Hague, Paris 1961-1982; Walicki, A.: The Slavophile Controversy: History of Conservative Utopia in Nineteenth-Century Russian Thought. Oxford 1969.

[20] Kireevskij, I.V.: Izbrannye stat´i. Moskau 1984, S. 214 (deutsche Übersetzung in: Tschižewskij / Groh: Europa, S. 268).

[21] Vgl. dazu u.a. Čičerin, B.: Vospominanija. Moskva sorokovych godov. Moskau 1929, S. 20ff.; 225-238.

[22] Siehe bei Tschižewskij / Groh: Europa, S. 102f.

[23]Ebenda, S. 245.

[24] Der deutsch-österreichische Orientalist Jakob Philipp Fallmerayer schrieb 1850 in diesem Zusammenhang: „Der Occident kann das sociale Problem nicht mehr lösen, er ist am äußersten Endpunct seiner geistlichen und weltlichen Hülfsmittel angekommen [...]. Ausgemacht und sicher ist nur, daß jetzt im Gegensatze zum westlichen, von langem Leben abgezehrten und welkenden Europa ein Volk erscheint [...], welches unter der harten Rinde des Czarismus [...] herangewachsen ist: ein Volk [...], das blind glaubte, sich passiv dem fremden Willen unterwaf“ (siehe bei Tschižewskij / Groh: Europa, S. 332f.).

[25] Namier, Sir L.: Conflicts. London 1942, S. 54.

[26] Vgl. dazu u.a. Martin, K.: The Triumph of Lord Palmerston. A Study of Public Opinion in England before the Crimean War. London 1963, S. 25; Krautheim, H.J.: Öffentliche Meinung und imperiale Politik. Das britische Rußlandbild 1815-1854. Berlin 1977, S. 286ff., 294ff.

[27] Rich, N.: Why the Crimean War? A cautionary Tale. Hannover 1985; Simpson, F.A.: Louis Napoleon and the Recovery of France. London 1960, S. 347; Schroeder, P.W.: The 19th-Century International System: Changes in the Structure, in: World Politics 39, 1986/87, S. 1-26, hier S. 6; Baumgart, W.: Der Friede von Paris. Studien zum Verhältnis von Kriegsführung, Politik und Friedensbewahrung. München 1972; Taylor, A.J.P.: Crimea: The War That Would Not Boil, in: Ders.: Europe: Grandeur and Decline. London 1974.

[28] Danilevskij, N.Ja.: Rossija i Evropa. Vzgljad na kul´turnye i političeskie otnošenija Slavjanskogo mira k Germano-Romanskomu. London 1966.

[29] Dostoevskij, F.M.: Tagebuch eines Schriftstellers. München 1963, S. 430.

[30] Čičerin, B.: Vospominanija. Moskva sorokovych godov. Moskau 1929, S. 150.

[31] Ebenda; ders.: Vospominanija. Moskovskij universitet. Moskau 1929.

[32] Pobedonoscev, K.: Moskovskij sbornik. Moskau 1896; Pis´ma Pobedonosceva Aleksandru III, hrsg. v. Pokrovskij, M., Band 1-2. Moskau 1925; Byrnes, R.F.: Pobedonoscev. His Life and Thought. Bloomington 1968; Leont´ev, K.: Vostok, Rossija i Slavjanstvo. St. Petersburg 1885-1886, Band 2, S. 136, 186f.

[33] Weber, A.: Die Krise des modernen Staatsdenkens in Europa. Stuttgart 1925, S. 119.

[34] Die Kerenski-Memoiren. Rußland und der Wendepunkt der Geschichte. Wien, Hamburg 1966, S. 540.