Ideengeschichte
Assen Ignatow
Vorahnungen des Totalitarismus.
Zukunftsvisionen russischer Denker und Schriftsteller des 19. und
20. Jahrhunderts
Trotz mancher Ähnlichkeiten mit älteren Herrschaftssystemen war die
totalitäre kommunistische Diktatur als Ganzes etwas qualitativ Neues. Sie
war aber nicht völlig unerwartet. Es gab nämlich sowohl in
Rußland als auch im Westen Denker, die mehrere Jahrzehnte vor dem
bolschewistischen Umsturz die Wesenszüge und nicht selten auch
erstaunliche Details des totalitären Systems vorausgesehen haben. Im
vorliegenden Aufsatz verfolgen wir diese oft scharfsichtigen Versuche, das
Bevorstehende zu erkennen.
Bei dieser Problematik geht man bewußt oder unbewußt immer von
einer erkenntnistheoretischen Position aus, nämlich von der Antwort auf
die Frage, ob wir überhaupt die Zukunft erkennen können. Die Antwort
ist eindeutig positiv für gewisse physische, chemische und astronomische
Vorgänge. Ein klassisches Beispiel dafür sind Sonnen- und
Mondfinsternisse, die Jahrhunderte im voraus bis auf die Sekunde vorhergesagt
werden. Im gesellschaftlichen Bereich ist aber eine derart präzise
Präkognition nicht möglich. Die durch wissenschaftliche
Gewißheit gekennzeichneten Prognosen der Astronomie oder der Physik sind
durch die den entsprechenden Wirklichkeitsbereich regierenden Gesetze
ermöglicht, bei denen gewisse zukünftige Resultate sich mit
Notwendigkeit aus den bereits existierenden Tatsachen ergeben. Solche Gesetze
gibt es in der Gesellschaft nicht - in diesem Punkt hatte Karl Popper Recht -
und das Scheitern der "wissenschaftlichen Prognosen, der Sozialismus werde mit
"eherner Notwendigkeit" und endgültig den Kapitalismus besiegen,
illustrierte das ad oculos.
In der Geschichte gibt es keine echten, d.h. eindeutigen und unumkehrbaren
Gesetzmäßigkeiten. Wohl gibt es aber gewisse Tendenzen oder,
wie man heute lieber sagt, Trends, in denen sich auch die
Wesensmerkmale der bereits vorhandenen, aber auch der möglichen
Phasen der Trends ausdrücken. Auch mittelmäßige Geister
können mehr oder weniger richtig diese Trends und Wesensmerkmale erkennen.
Jedoch geht ein tiefgründiger Geist einen Schritt weiter. Er folgt der dem
Trend eigenen Logik und leitet daraus das zu Erwartende ab. So prognostiziert
er die wahrscheinlichen folgenden Phasen. Die Prognose geschieht auf dem Weg
einer Extrapolation, d.h. einer gedanklichen Fortsetzung einer bestimmten
Entwicklungstendenz in die Zukunft.
Und wenn - ein verhältnismäßig seltener Fall - der Prognostiker
nicht nur einen scharfen logischen Verstand, sondern auch starke, lebhafte
Einbildungskraft hat, d.h. wenn er sich auch bildlich das Vorausgesagte
vorstellt, dann können die Vorwegnahmen verblüffend plastisch und
lebensnah sein. Sie sind imstande, den Eindruck aufkommen zu lassen, man habe
es mit einer wahren Prophezeiung zu tun. Das zeigen, wie man sehen wird, die
Werke von Dostoevskij, Leont'ev, Bogdanov und Zamjatin.
In diesem Aufsatz befassen wir uns mit den wichtigsten russischen
Zukunftsprognosen über den Sozialismus/Kommunismus als Gesellschafts- und
Machtsystem. Im Text gebrauchen wir die beiden Termini als identisch. Die
Denker, von denen die Rede ist, gebrauchen bald das eine, bald das andere Wort,
meinen aber das, was wir als kommunistischen Totalitarismus erlebt haben. Die
scholastische Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus als "zwei
Phasen" der "höchsten Gesellschaftsformation", wie sie die
Marxisten-Leninisten vertraten, ist hier irrelevant, weil die entlarvenden
Prognosen unvereinbar sind mit der eschatologischen Vision der "Zweiten Phase".
l. Aleksandr Gercen: Sieg, Verfall und Niederlage des Kommunismus
Einige der weitsichtigsten Gedanken über die kommunistische Zukunft
entstammen der Feder von Aleksandr Gercen (1812-1870), einem der brillantesten
Publizisten nicht nur im russischen, sondern auch im Weltmaßstab des 19.
Jahrhunderts. Gercen, der geistig sowohl Russe als auch Westeuropäer war,
also selber einen anschaulichen Beweis für die Zugehörigkeit
Rußlands zu Europa darstellte, ist es gelungen, sehr scharf in die
Zukunft zu sehen.
Eine (genetische wie inhaltlich-konzeptionelle) Besonderheit der Gercenschen
Prognosen besteht darin, daß er selbst - alles in allem - den Sozialismus
anstrebte, zumindest mit ihm sympathisierte. Aber seinem luziden Geist war die
den meisten Revolutionären fremde Fähigkeit beschieden, auch die
Kehrseite von allem zu erblicken. Wie keinem anderen "fortschrittlichen" Autor
ist es ihm gelungen, Einseitigkeiten zu vermeiden.
Davon sind auch seine Vorhersagen geprägt. In ihnen spielt sich ein
innerer Kampf zwischen Bejahung und Verneinung ab. Unter dem Eindruck der
Niederlage der Revolution von 1848 war Gercen tief von der Fäulnis des
bürgerlichen Europa überzeugt, dem ein unvermeidlicher Untergang
bevorstehe. Diese Diagnose, die sich bekanntlich als weit übertrieben
erwiesen hat, beeinflußte seine Prognose und seine Bejahung des
Sozialismus. Aber sein Sinn für das Komplexe begünstigte andererseits
seine Vision des Negativen, das der Sozialismus nach sich ziehen
wird.
Obschon er nicht explizit die Unvermeidlichkeit des Sozialismus zum Ausdruck
bringt, neigt er zweifellos zu dieser Annahme. Zwar schließt er auch
andere Entwicklungen nicht ganz aus, hält aber den Sozialismus für
die wahrscheinlichste Variante.
Gercen stellt den Sieg der
massen als einen der Naturgewalt ähnelnden Sieg der sozialen Gerechtigkeit, aber auch der Barbarei dar, als eine
verdiente Strafe. In einem imaginären rhetorischen Dialog fragt er
seinen Gesprächspartner:
"Sehen Sie denn nicht die neuen Christen, die im Begriff sind zu bauen, die
neuen Barbaren, die im Begriff sind zu zerstören? - Sie sind bereit, sie
rühren schwer wie Lava unter der Erde, im Schoß der Berge. Wenn ihre
Stunde schlägt, werden Herculaneum und Pompeji verschwinden, das Gute und
das Böse, der Gerechte, der Unschuldige und der Schuldige werden zusammen
untergehen. Das wird kein Gericht, keine Abrechnung sein, sondern Kataklysmus,
Umsturz [...] Diese Lava, diese Barbaren, diese Nazaräer, die im Begriff
sind, mit dem gebrechlichen Altersschwachen (drjachloe) und
Ohnmächtigen Schluß zu machen und dem Frischen und Neuen den Weg zu
ebnen, sind näher, als Sie meinen."[1]
Gercen ist sich der Verwüstung, der blinden Vernichtung, die das
Proletariat bringt, durchaus bewußt, "vergibt" ihm aber - echt russisch!
- diese "Unkosten der Revolution". Man dürfe nicht vergessen, daß
die Massen vor Hunger sterben, während "wir", die Privilegierten mit einem
Glas Champagner über den Sozialismus räsonieren! Auf die durchaus
vernünftige Frage seines fiktiven Gesprächspartners, ob der
Fortschritt unbedingt mit der "Nacht der Barbarei" einhergehen muß,
antwortet er, daß die Gelehrten in der Tat schlechter als vorher leben
würden, fügt aber hinzu, das sei doch gerechtfertigt, das sei der
Beweis dafür "daß jede historische Phase eine völlige
Wirklichkeit, ihre Individualität hat, daß jede solche Phase ein
Ziel und kein Mittel ist; daher hat jede ihr Gut (blago), das Gute, das
nur ihr angehört und mit ihr vergeht".[2]
Gercen beruft sich auf historische Ereignisse und Naturvorgänge:
Geschichte und Natur hätten kein Mitleid mit dem Überholten und
Lebensunfähigen. Natur und Geschichte hegten keine negativen Gefühle
gegen uns, sie hätten nichts gegen uns persönlich. Es sei falsch, mit
unserem kleinen Maß die Weltentwicklung zu messen, "für welche das
Leben von Generationen, Völkern, ja ganzen Planeten im Vergleich zur
allgemeinen Entwicklung keine Wichtigkeit hat."[3] Im Gegensatz zum Subjektivismus der Menschen "ist für
die Natur der Untergang des Partikulären die Erfüllung derselben
Notwendigkeit, desselben Spiels des Lebens wie seine Entstehung; sie bedauert
es nicht, weil nichts - mag dieses sich noch mehr verändern- aus ihrer
breiten Umarmung verschwinden kann."[4]
Dabei versucht Gercen, sich den Sozialismus und - avant la lettre - die
"Übergangsperiode" in concreto vorzustellen. Er stellt eine
wichtige These auf: Der Sozialismus werde siegen, aber sozusagen in
modifizierter Gestalt. Anders gesagt: Der Sozialismus werde sich verwirklichen
und sich im Verlauf dieser Verwirklichung ändern. Der Sozialismus werde
sich nur zum Teil realisieren, aber auch dann das Zeitalter bestimmen. Mit dem
Sozialismus werde das geschehen, was bereits mit dem Christentum geschah. Die
Botschaft des Evangeliums habe sich nicht in die Tat umgesetzt, aber dennoch
habe sie alles Geschehen durchdrungen, an ihm irgendwie teilgenommen und es
geleitet.
"Das Neue, das aus dem Kampf der Utopie und des Konservatismus
entsteht, geht ins Leben nicht so ein, wie die eine oder andere Seite
erwartet hat [...] Die Ideale, die theoretischen Konstruktionen verwirklichen
sich niemals so, wie sie unserem Geist vorschweben."[5]
Wo wird der Sozialismus den Sieg davontragen? Daß Westeuropa
sozialistisch sein wird, ist für Gercen eine Selbstverständlichkeit.
Aber was ihn ganz besonders und mehrmals beschäftigt hat, ist die Frage
nach der Möglichkeit einer sozialistischen Umwälzung in
Rußland. Auch in diesem Punkt weist er keine Neigung zu einfachen
Antworten auf, sondern bleibt auf der "Suche". Immer mehr neigte Gercen zur
Annahme, eine Bauernrevolution in Rußland werde die proletarische
Revolution im Westen ergänzen und sogar ermöglichen. "Der Mensch der
Zukunft ist in Rußland der Muik, genauso wie er in Frankreich der
Arbeiter ist."[6] Die "Hoffnungen und
Bestrebungen des revolutionären Rußland fallen mit den Hoffnungen
und Bestrebungen des revolutionären Europa zusammen und verheißen
(predrekajut) ihr Bündnis für die Zukunft. Das nationale, von
Rußland hineingebrachte Element ist jugendliche Frische und die Neigung
zu sozialistischen Einrichtungen."[7]
Doch Gercen ist sich darüber im klaren, daß die besondere
Prädisposition Rußlands für den Sozialismus/Kommunismus nicht
zu trennen ist von anderen Eigenheiten dieses Landes. So werde das Zarenregime
als unbarmherziger Feind des Kommunismus diesen aber später beeinflussen.
Nachdem Gercen auf die seltsame Ähnlichkeit zwischen den "Phalansterien",
d.h. den vom ul-traprogressiven Sozialisten Charles Fourier vorgeschlagenen
Arbeits- und Lebenskommunen, und der russischen Dorfgemeinde sowie den
"Militärsiedlungen" des ultrareaktionären Zarenreichs hinweist,
schreibt er: "Es ist bemerkt worden, daß es in einer Opposition, die
offen mit der Regierung kämpft, immer etwas von der letzteren, aber im
umgekehrten Sinn, gibt [...] der Kommunismus - das ist die russische
Selbstherrschaft umgekehrt."[8] Diese
Vorhersage hat sich glänzend bestätigt. Bereits in den ersten Monaten
nach der bolschewistischen Machtergreifung begannen die Kritiker, ganz
besonders die Sozialdemokraten (die Menschewiki) und andere Revolutionäre,
die neuen Machthaber mit der Selbstherrschaft zu vergleichen.
Aber den Gipfelpunkt seiner Weitsicht erreicht Gercen, als er in einigen kurzen
Zeilen den Verfall und das Ende des Kommunismus voraussieht. 1850 (!) schreibt
er: "Der Sozialismus wird sich in all seinen Phasen bis zu seinen letzten
Konsequenzen, bis zum Unsinn entwickeln. Dann wird sich von neuem aus der
titanischen Brust der revolutionären Minderheit der Schrei der Negation
entringen, und von neuem wird der Todeskampf beginnen, in dem der Sozialismus
den Platz des jetzigen Konservatismus einnehmen wird und von der kommenden, uns
unbekannten Revolution besiegt werden wird."[9]
Die prognostische Kraft von Aleksandr Gercen ist doppelt
bewunderungswürdig, weil er so viel und so genau vorausgesehen hat, und
weil er, der zum Sozialismus neigte, in mancher Hinsicht weitsichtiger war als
die konservativen Kritiker des Sozialismus.
Die Gewißheit seiner Prognose des Sieges des Sozialismus ist von einem
inneren Kampf zwischen der Sehnsucht nach dem Sozialismus und der Angst vor der
"Barbarei", die er luzide einsieht, begleitet. Um einen Ausweg aus diesem
Konflikt zu finden, greift Gercen zu einem dem damaligen "Zeitgeist" genau
entsprechenden Mittel, zur Aufforderung, vom Standpunkt des "Ganzen", des
Großen", der "Geschichte", zu urteilen, in deren Licht manche auch
unserem Denker nicht gerade angenehmen Dinge wie geringfügige Bagatellen
aussehen. Gercen klammert sich an den relativistischen Historismus,
dessen siegreicher Marsch das europäische Denken jener Epoche markierte.
Allerdings war Gercen zu sensibel, um sich von dieser sozialistischen Version
des ad maiorem Dei gloriam ganz überzeugen zu können. Seine
innere Spaltung blieb.
Vielleicht regte ihn diese innere Unruhe zur (wiederum treffenden) Prognose an,
daß die sozialistische Wirklichkeit von dem sozialistischen Programm
abweichen werde, ohne ihm ganz zu widersprechen, daß die
revolutionäre Utopie dem Konservatismus Zugeständnisse machen werde
und vice versa (die ganze, ein Jahrhundert danach entstandene
"Konvergenztheorie" scheint hier in embryonaler Form schon da zu sein!).
Vielleicht milderte die Prognose derartiger konservativer "Korrekturen" am
ursprünglich so rohen Sozialismus seine Ängste vor der
"Barbarei".
Was die Frage anbelangt, ob eine sozialistische Revolution im bäuerlichen
Rußland möglich sei, unterscheidet sich Gercens Antwort sowohl von
der negativen Antwort der orthodoxen Marxisten als auch von der positiven
Antwort der Narodniki. Er vertritt eine Mittelposition, nach der die
Aufstände der russischen Bauern und der westeuropäischen Proletarier
zusammenfließen und so den Weltsozialismus ermöglichen
werden.
Die Geschichte hat eben dieser Hypothese recht gegeben, freilich in einer
anderen Tonleiter und Reihenfolge, mit einer anderen Intensität der
Ereignisse und mit einer anderen Proportion der Elemente. Nicht nur siegte die
kommunistische Revolution im agrarischen Rußland, sondern sie siegte zum
ersten Mal in Rußland, was Gercens Prognose übertraf. Die
"natürlichen Neigungen" der Russen, d.h. der russische patriarchalische
Kollektivismus erleichterte den Sieg der Bolschewiki. Aber - hier enden die
Bestätigungen - kurioserweise verwarfen die Bolschewiki in ihren Theorien
die Rolle dieser Neigungen, die sich für sie als so nütz1ich
erwiesen. Also: In manchen Fällen hat die Geschichte mehr, in anderen
weniger als die Vorhersage verwirklicht. Die Praxis der Revolution wählt
sich nicht immer die zu ihr passende theoretische Fahne. Mit der
bolschewistischen Praxis stimmte nicht der marxistische, sondern der
bäuerliche Narodniki-Sozialismus überein. Das ist nicht der einzige
Fall einer derartigen Halbverwirklichung, bei der sich die sozialen
Kräfte die "falsche", ihnen nicht entsprechende Idee
aneignen.
In einem Punkt ist aber Gercen allen anderen Autoren, die die kommunistische
Zukunft skizzieren, überlegen: das ist seine verblüffende Voraussage
der Verwandlung des Kommunismus in eine konservativ-reaktionäre Kraft,
seiner Herrschaft in ein Reich des Absurden und - vor allem - der
künftigen Revolutionen, die die kommunistische Tyrannei stürzen
werden. Es genügt, die Aufstände 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn,
1970 und 1980 in Polen, den Prager Frühling 1968 und am Ende die sanften
Revolutionen von 1989 in Osteuropa zu erwähnen; sie sind der beste
Kommentar zu Gercens Worten.
Der kurze, in der Tat prophetische Satz Gercens über das Ende des
Kommunismus ist eine der glänzendsten Leistungen historischer
Prognostik.
2. Michail Bakunin: Die marxistische Herrschaft als neue
Sklaverei
Auch der berühmte russische Anarchist Michail Bakunin (1814-1876) hat
wichtige Züge des kommunistischen Totalitarismus vorhergesagt. Seine
Prognosen formulierte er im Verlauf und aus Anlaß seiner Kontroverse mit
Karl Marx über die Grundcharakteristika der zukünftigen Gesellschaft
der sozialen Gerechtigkeit, nach der sich die beiden Rivalen gleich
sehnten.
Die Scheidelinie zwischen den beiden (eine gewisse Zeit befreundeten - soweit
das bei Marx möglich war) Sozialtheoretikern war das Verhältnis zum
Staat. Auch für den Marxismus ist der Staat keine ewige Einrichtung.
Letzten Endes werde er "absterben". Aber als Übergangsphase, als "Diktatur
des Proletariats", ist er nötig und unabdingbar. Jedoch ist in den Augen
eines konsequenten Anarchisten auch diese angeblich zeitlich begrenzte
Staatsherrschaft völlig inakzeptabel. Eben seinem radikalen Antietatismus
zufolge konzentrierte Bakunin seine kritische Aufmerksamkeit auf die Folgen,
die die Verwirklichung des Marxschen Modells haben würde. Die Beschreibung
dieser Konsequenzen macht den wichtigsten Teil seiner Prognosen
aus.
Der von den "Marxianern" geplante "Staatssozialismus", der, wie Bakunin
mehrmals unterstreicht, ein typisch deutsches, "pangermanisches" Phänomen
sei, wäre, "wenn er je verwirklicht werden könnte, nur eine Form sehr
harter Sklaverei für das Volk".[10] "Diese
Revolution wird in der allmählichen oder gewaltsamen Expropriation der
gegenwärtigen Grundbesitzer und Kapitalisten und der Aneignung alles Grund
und Bodens und alles Kapitals durch den Staat bestehen, der zur Erfüllung
seiner großen ökonomischen und politischen Mission natürlich
sehr mächtig und sehr stark zentralisiert sein muß."[11] Der Marxsche Staat werde auch den Ackerbau
verwalten und Armeen von "gedrillten Landarbeitern" kommandieren.[12] So schreibt Bakunin 1872!
Bakunin sieht klar ein, daß diesem bürokratisch-etatistischen
Sozialismus die irrtümliche Annahme zugrundeliegt, daß Gleichheit
und Gerechtigkeit ohne Freiheit möglich wären.[13] "Dies wäre für das Proletariat ein
Kasernenregime, bei dem die einförmig gemachte Masse der Arbeiter und
Arbeiterinnen beim Schlag der Trommel aufwachen, einschlafen, arbeiten und
leben würde."[14]
Aber auch die Gleichheit, der die "Marxianer" auf Kosten der Freiheit den
Vorzug geben, sei gar nicht so unbedingt. Bakunin sieht nämlich voraus,
daß der marxistische Sozialismus eine neue Machthierarchie und neue
Schichtungen nach sich ziehen wird. Der wahre Sinn von Worten wie
"wissenschaftlicher Sozialismus", "gelehrter Sozialist" usw. bestehe darin,
daß der marxistisch konzipierte Staat "nichts anderes sein wird als die
äußerst despotische Regierung der Volksmassen durch eine neue und
zahlenmäßig sehr kleine Aristokratie wirklicher oder angeblicher
Gelehrter. Das Volk ist nicht gelehrt, d.h. es wird vollkommen von der Sorge
der Regierung befreit werden, wird gänzlich in die Herde der Regierten
eingeschlossen. Eine schöne Befreiung!"[15]
Bakunin ironisiert die künftige Staatsordnung, die "diesen Massen das
Glück und die Ehre vorbehält, Führern [...] zu gehorchen".[16] Was bedeutet die Tatsache, daß die
"Marxianer" einen ganz deutlichen Unterschied zwischen "Klasse", der sie eine
zentrale Rolle beimessen, und "Masse", der ein subalterner Platz zukommt,
machen? "Nichts mehr oder weniger als eine neue Aristokratie, die der Fabriks-
und der städtischen Arbeiter mit Ausschluß der das Landproletariat
bildenden Millionen, die nach den Erwartungen der Herren Sozialdemokraten
Deutschlands die eigentlichen Untertanen in ihrem großen sogenannten
Volksstaat bilden würden."[17]
Gegenüber den Versicherungen der Marxisten, daß die Diktatur des
Proletariats nur vorübergehend sein werde und daß ihre Funktion
gerade darin bestehe, die künftige Freiheit vorzubereiten, ist Bakunin
sehr skeptisch: "wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes
Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem
Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit
kann nur durch Freiheit geschaffen werden."[18]
Außerdem werde der "marxianische" Zukunftsstaat, den Bakunin in
Deutschland situiert, ein aggressiver Staat sein. Er werde seinen
Pseudosozialismus nach außen exportieren und die Versklavung der
lateinischen und slawischen Völker anstreben. "Im Innern bestünde
Knechtschaft, nach außen hin ununterbrochener Krieg, außer wenn
alle Völker der 'inferioren' Rassen, der lateinischen und der slawischen,
die einen der Zivilisation müde, die anderen dieselbe beinahe nicht
kennend und instinktiv verachtend, sich dazu bequemten, unter dem Joch einer
ihrem Wesen nach bourgeoisen Nation und eines Staates zu leben, der umso
despotischer ist, als er sich Volksstaat nennen würde."[19] So lautet Bakunins summarische Charakteristik der
künftigen, nach dem Marxschen Rezept errichteten
Gesellschaft.
Alles in allem war auch Bakunin ein luzider Prognostiker. In den wesentlichen Punkten hat ihm die Geschichte Recht gegeben. In mehrfacher Hinsicht geschah es genauso, wie er meinte. Er sah viele Attribute des von Marx inspirierten Realsozialismus, die Allmacht des Staats, die Rechtlosigkeit der Massen und vor allem der Bauern und überhaupt die "Kasernierung" der Bevölkerung voraus. Er nahm das "Bündnis der Arbeiter und Bauern unter der Führung der Arbeiter" in seiner wahren, unverschönerten Gestalt vorweg. Wenn man seine Befürchtungen liest, die "vorübergehende" Diktatur werde sich verewigen, erinnert man sich gleich an Stalins Sophismen über die angebliche Notwendigkeit, gerade nach dem Sieg des Sozialismus die Diktatur zu "festigen", oder an ein solches Unding wie den klassenlosen "Staat des gesamten Volks" im Chruščevschen Programm der KPdSU von 1961. Lange vor Trockij, Ðjilas und Voslenskij - und im Unterschied zu ihnen ohne jegliche empirische Erfahrung, sozusagen rein apriorisch - hat Bakunin die Entstehung der "Neuen Klasse", der Nomenklatura, vorhergesagt. Auch die Aggressivität des marxistischen Staates, die Politik der Verbreitung des Sozialismus mit Feuer und Schwert, hat er gedanklich richtig erblickt.
Wie immer ist die richtige Erfassung der Natur des kommunistischen Systems mit
Fehlern in der Darstellung der einzelnen Elemente, der Details, der Raum- und
Zeitkoordinaten verbunden. Die unzertrennliche Einheit von Marxismus und
"Pangermanismus" war ein grober polemischer Trick (mit dem Bakunin auf genauso
grobe Invektiven von Marx reagierte). Abgesehen von manchen polemischen
Exzessen (der Charakterisierung der slawischen Völker als
"reaktionäre Völker" usw.) waren Marx und Engels nicht weniger
Internationalisten als Bakunin. Die Eroberung anderer Völker unter
kommunistischer Fahne ging nicht vom Marxschen Deutschland, sondern vom
Bakuninschen Rußland aus. Überhaupt erwies sich die "Topographie"
der Bakuninschen Prognose als falsch: der "despotische" Staatssozialismus
siegte in seinem Vaterland.
Ein zeitbedingter Fehler war die Identifizierung der über die Arbeiter
herrschenden Schicht mit den Intellektuellen, mit den "Gebildeten" und den
"Gelehrten". Die mit Bakunin rivalisierende sozialistische Schule, die
marxistische, bekannte sich zu einem "wissenschaftlichen Sozialismus", und es
stand an der Spitze dieser Arbeiterpartei kein Arbeiter, sondern ein Gelehrter.
Bakunin extrapolierte diese Besonderheit auch in die Zukunft und fiel damit in
die Falle, die die Extrapolation oft stellt - nämlich die Ignorierung
anderer Faktoren, die zur Zeit der Prognose noch nicht vorhanden waren.
Letztendlich erwies sich das kommunistische Machtsystem nicht als eine Macht
der Gebildeten, sondern als eine Macht Halbgebildeter (Stalin, Ždanov, Molotov,
Malenkov, Mikojan) und Ungebildeter (Kaganovič,
Vorošilov, Honecker, Ceauşescu, Živkov).
Auch die "Kasernierung" der Bevölkerung, obzwar im wesentlichen richtig
prognostiziert, geschah nicht in der grotesken Form ("beim Schlag der
Trommel"), die sich Bakunin vorstellte. Aber auch Bakunins Vision war nicht
sehr weit von der Wirklichkeit entfernt. Erinnern wir uns an Trockijs Projekt
der sogenannten trudarmija [Arbeitsarmee], das damals gewisse
Chancen auf Verwirklichung hatte.
3. Fedor Dostoevskij: Todesstrafe für Genies
Mit dem Namen von Fedor Dostoevskij (1821-1881) ist die zweifellos
anschaulichste Vision des Kommunismus verbunden.
Trotz ihrer ungewöhnlichen Stärke ist Dostoevskijs Beschreibung der
kommunistischen Ordnung knapp und dient der Auseinandersetzung mit der
militant-atheistischen Ideologie des Kommunismus. Diese Ideologie ist das
weltanschauliche Fundament des kommunistischen Systems und als solches
enorm wichtig. Doch das ist ein anderes Thema; wir sehen von dessen
ausführlicher Darstellung ab und beschränken uns auf Dostoevskijs
Bild der kommunistischen Gesellschaft.
Seine Antizipation stellt Dostoevskij mit den Worten der Helden des Romans
Die Teufel, aber auch der Romane Schuld und Sühne und Die
Brüder Karamasow dar. Den Kern der Kommunismusvision finden wir in dem
von Šigalev entworfenen und von Petr Verchovenskij, diesem
echten Prototyp von Lenin und Stalin, enthusiastisch akzeptierten Entwurf der
"vollkommenen" Gesellschaft. In der Form der Utopie von
Šigalev/Verchovenskij schafft Dostoevskij seine eigene finstere
Antiutopie.
Das von Dostoevskij in den Teufeln konzipierte "Paradies" ist vor allem
eine nivellierte Gesellschaft, ein Reich des Egalitarismus. Die Gleichheit im
Šigalevschen Sinn ist von der Sklaverei nicht zu trennen, sie
ist ihr alter ego. Dabei trifft das neue System harte - banale, aber
auch "originelle" - Vorkehrungen gegen jeden möglichen Verstoß:
"jedes Mitglied der Gesellschaft beaufsichtigt jedes andere und ist zur Anzeige
verpflichtet. Jedes gehört allen und alle jedem. Alle sind Sklaven und in
diesem Sklavenzustande untereinander gleich [...] In extremen Fällen
kommen Verleumdungen und Mord zur Anerkennung; aber die Hauptsache ist die
Gleichheit."[20] Somit leben die Mitglieder
der neuen Gesellschaft in einer wahrlich infernalischen
Atmosphäre.
Die Gleichheit - und das ist das Neue - dehnt sich auch auf die menschliche
Seele aus und zieht eine allgemeine Niveausenkung der Kultur nach sich.
Verchovenskij bekennt sich ganz ehrlich und ohne Verschönerung zum
Šigalevschen Programm:
"Das erste, was geschehen wird, ist, daß sich das Niveau der Bildung, der
Wissenschaften und der Talente senken wird. Ein hohes Niveau der Wissenschaften
und der Talente ist nur höher Begabten erreichbar; aber wir brauchen keine
höher Begabten! Die höher Begabten haben immer die Macht an sich
gerissen und sind Despoten gewesen [...], die werden vertrieben oder
hingerichtet."[21]
Und in seiner in der Tat dämonischen Exaltation veranschaulicht
Verchovenskij, was das konkret bedeutet: "Einem Cicero wird die Zunge
herausgeschnitten, einem Kopernikus werden die Augen ausgestochen; ein
Shakespeare wird gesteinigt [...] Wir werden jedes Genie im Säuglingsalter
ersticken."[22]
Obschon Verchovenskij deswegen gegen die Begabten ist, weil sie die Macht an
sich rissen und Despoten gewesen seien, hat er nichts dagegen, daß
gewisse Personen, zu denen er natürlich gehört, die Macht an sich
reißen und zu Despoten werden. In einer merkwürdigen Ambivalenz zum
Grundsatz der Gleichheit sind nicht alle gleich gleich (man erinnere sich an
das Orwellsche "Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher als die
anderen"). Šigalev und Verchovenskij finden nämlich "die
Zerlegung der Menschheit in zwei ungleiche Teile" unumgänglich.[23]
"Ein Zehntel erhält die Freiheit der Persönlichkeit und das
unbeschränkte Recht über die übrigen neun Zehntel. Diese aber
müssen ihre Persönlichkeit verlieren und sich in eine Art von Herde
verwandeln und bei unbegrenztem Gehorsam durch eine Reihe von Wiedergeburten
die ursprüngliche Unschuld, gewissermaßen das ursprüngliche
Paradies wiedererlangen, obwohl sie übrigens auch arbeiten müssen.
Die vom Verfasser [Šigalev - A.I.] vorgeschlagenen
Maßregeln, um neun Zehnteln der Menschheit den Willen zu nehmen und
dieselben vermittels einer umbildenden Erziehung ganzer Generationen in eine
Herde zu verwandeln, sind sehr interessant, auf naturwissenschaftliche
Tatsachen gegründet und streng logisch"[24]
- so lobt ein anderer Verehrer von Šigalev seine Ideen. Auch Raskolnikov glaubt, daß "die Menschen nach einem Naturgesetz sich tatsächlich in zwei Klassen scheiden: in eine niedrige, die der gewöhnlichen Menschen [...] und in eigentliche Menschen, das heißt solche, die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrem Wirkungskreis ein neues Wort auszusprechen."[25] Für diese
höhere Kategorie ist die Verletzung der üblichen Moral normal und
unvermeidlich.
Die Versklavung der Massen durch die neuen Herren findet ihre "metaphysische" Begründung in den berühmten Worten des Großinquisitors, daß für die überwiegende Mehrheit die Freiheit eine schwere Bürde sei; somit geschehe die Unterjochung der Massen sozusagen zu ihrem Besten.[26] Überhaupt werde den einfachen
Menschen ein naives Glück beschert. Sie wären zwar gezwungen zu
arbeiten, würden dafür aber in der Freizeit singen und tanzen. "Oh,
wir werden ihnen auch die Sünde erlauben, denn sie sind ja schwach und
ohnmächtig, und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß wir
ihnen erlauben zu sündigen [...] Sie werden sich uns freudig und gern
unterwerfen."[27]
Ganz ungewöhnlich für das übliche Vokabular der damaligen
Revolutionäre klingt auch Verchovenskijs Plädoyer für die
Notwendigkeit eines künftigen Diktators, der über die absolute Macht
verfügt, wobei in seinen Worten ein Ton herrscht, der damals eher zu einem
französischen "Legitimisten" oder zu einem russischen Erzreaktionär
gepaßt hätte. Nicht "das demokratische Gesindel mit seinen
Fünferkomitees", d.h. der revolutionäre Apparat, sondern "ein
einziger majestätischer Wille, der Wille eines Götzen und Despoten,
ein Wille, der sich auf nichts Zufälliges und außerhalb Stehendes
stützt", tue not.[28] Dann würden
die fraglichen Komitees "den Schwanz einklemmen" und sich als "brauchbar"
erweisen, aber nur als "Sklaven" und nur gelegentlich.[29]
Gekrönt wird die teuflische Utopie der Teufel vom "Neuen Menschen".
Sozusagen vollendet eine neue, höchste Stufe in der Entwicklung des
Menschen die höchste Stufe der Entwicklung der Gesellschaft. Dieser "neue
Mensch" ist ein absolut "freier" (im Sinn von Eigenwille) Mensch, und er lebt
in "Pracht und Herrlichkeit". Das wäre nur dann und deswegen möglich,
wenn und weil der Mensch mit Gott bricht und jede Furcht vor ihm verliert,
dessen Thron er besteigt. "Jetzt ist der Mensch noch nicht der richtige Mensch.
Es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen
Menschen"[30] - sagt Kirillov, und das hat
seine welthistorischen Konsequenzen: "dann wird man die Geschichte in zwei
Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes [...] und von der
Vernichtung Gottes bis zur ,physischen Umgestaltung des Menschen'."[31]
Dostoevskijs Fresko des russischen "nihilistischen" Untergrunds vom Ende der
sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts enthält auch die grellste und
beeindruckendste Vorwegnahme des Kommunismus (daß bereits Marx und Engels
und danach auch die russischen Bolschewiki sich von der sog.
Nečaevščina distanziert und sie aufs strengste verurteilt haben, ändert nichts an der Wesensverwandtschaft ihrer Lehren mit den despotischen Ambitionen und dem skrupellosen "revolutionären" Machiavellismus der Nečaev-Gruppe,
deren Wirken Dostoevskij als Vorlage für seinen Roman Die Teufel
benutzte). Niemand hat so tief und durchdringend den inneren Zusammenhang
zwischen Gleichheit und Sklaverei erkannt, niemand hat so prophetisch gesehen,
daß hinter dieser so ersehnten Gleichheit keine zufällige (also
korrigierbare), sondern eine logisch notwendige Sklaverei steckt. Kant
hätte diese von Dostoevskij gewonnene Erkenntnis "ein analytisches Urteil
a priori" genannt: Es ist nicht nötig, sich den konkreten empirischen
Tatsachen hinzuwenden, die Gleichheit ergibt sich aus der Analyse des Begriffs
der (allgemeinen) Sklaverei. Dabei konnte Dostoevskijs Intuition eine nur der
kommunistischen Sklaverei eigene Besonderheit treffen, die sich in ihrer ganzen
Konkretheit natürlich erst später zeigte: Jeder gehört jedem,
jeder beaufsichtigt jeden und, "wenn nötig", zeigt ihn an. Der Kommunismus
ist nämlich die einzige gesellschaftspolitische Ordnung, wo die
Unterdrückten in einem gewissen Sinn selbst an der Unterdrückung
beteiligt sind, wo Henker und Opfer die Plätze tauschen, wo berühmte
Verwalter der GULAG-Welt am Ende selbst in den GULAG geraten, ja vor dem
Erschießungspeloton erscheinen. Ein exzeptionelles Verdienst Dostoevskijs
besteht darin, daß er mit unvergleichbarer Schärfe die extrem
kulturfeindlichen Konsequenzen des kommunistischen Antiindividualismus
aufzeigte und die geistige Armut, die Plebejisierung der Kultur und den
Bildersturm unter diesem System voraussagte. Nicht nur bestätigte die
Realität seine Prognose, sie übertraf sie sogar. Die kommunistische
Diktatur konnte keine herausragenden Personen ertragen, auch nicht ihre
"eigenen", jene, die mit ihren Fähigkeiten dem kommunistischen Sieg enorm
verholfen haben, die aber zu klug waren, um am Leben oder auf hohen Posten zu
bleiben. Sicherlich waren gerade die hohen Begabungen das echte Motiv für
die Ermordung von flamboyanten Kommunisten wie Kol'cov, Babel', Mejerhol'd,
Luppol, Sten, von Bucharin und Radek gar nicht zu reden, oder den Verfolgungen
und Hetzkampagnen gegen Lukács, Harich und so viele andere.
Vorausgesehen hat der Romancier sowohl die neue, frappierende "Ungleichheit in
der Gleichheit": die Macht- und Rechtlosigkeit der großen Masse und die
unbeschränkte Macht einer "neuen Klasse", als auch die ideologische
Rechtfertigung dieser Ungleichheit - angeblich schenken die Machthaber der
unreifen Masse ein glückliches Dasein und befreien sie von der schweren
Bürde der Verantwortung. Aber das ganz Bemerkenswerte ist, daß die
Prognose nicht beim Allgemeinen und Großen stehenbleibt, sondern viel
konkreter ist. Daß Dostoevskij den "Personenkult" und die künftigen
"Götzen und Despoten" klar vorausahnt, ist evident: der Name von Stalin
taucht sofort im Bewußtsein des Lesers auf, wenn er sich mit der
Gedankenwelt von Verchovenskij vertraut macht. Der sowjetische Diktator
verachtete genauso zynisch seine "Kampfgefährten" wie Verchovenskij die
Fünferkomitees. Außer der intuitiven Stärke der Antizipation
ist auch ihr theoretischer Wert bemerkenswert: Dostoevskij sieht - mehrere
Jahrzehnte vor den Ereignissen - sogar eine solche Finesse wie die Spannung
zwischen den beiden Elementen des kommunistischen Totalitarismus - dem
unpersönlichen Apparat und der cäsaristischen Dimension -
voraus.
Genauso treffend ist auch das Bild des anthropologischen Mythos. Wenn man
Kirillovs aufgeregte Predigt über den "Neuen Menschen" und den
Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte liest, so kann
man sich manchmal fragen: Wer prophezeit eigentlich? Kirillov oder Engels,
Lenin und das Chruščevsche Programm der KPdSU, wo der
"Neue Mensch" in der Gestalt der makellosen Vollkommenheit
erscheint?
Die Punkte, wo die Wirklichkeit von der Prognose divergiert, sind wenig, dabei
ist die Divergenz nicht sehr groß. Die kommunistische Soziallehre war
nicht in erster Linie "naturwissenschaftlich" fundiert: Hingegen hoben die
kommunistischen Theoretiker das Spezifikum der Gesellschaft hervor und hielten
den naturwissenschaftlichen Materialismus für grob und unzulänglich:
Auch das hedonistische Element der Zukunftsvision ("Recht auf Sünde") war
von kurzer Dauer. Es machte dem Puritanismus Platz. Aber vor dem Hintergrund
der großen, wahrlich prophetischen Leistung Dostoevskijs sind diese
Aberrationen geringfügig.
4. Konstantin Leont'ev: Die Unbeweglichkeit als Ideal
Leont'evs Vorwegnahme des Kommunismus ist ein Teil seiner Deutung der
Weltentwicklung im 19. Jahrhundert.
Bei Leont'ev haben wir es zweifelsohne mit einem der originellsten Geschichts-
und Kulturphilosophen und Kulturkritikern nicht nur im russischen, sondern auch
im Weltmaßstab zu tun. Der Feder des "russischen Nietzsche", wie
Solov'ev, Rozanov und Frank ihn mit gutem Grund genannt haben, entstammt eine
brillante, ästhetische Kritik am "durchschnittlichen Europäer",
dessen Kleinkariertheit, Spießertum, lauwarme Seele und banale Tugenden
er verhöhnt. Pessimistisch sieht Leont'ev den Aufstieg dieses liberalen
Philisters als unaufhaltsam an, deswegen fürchtet er, daß
auch der Triumph des Sozialismus/Kommunismus unvermeidlich ist.
Für den modernen Leser klingt dieses "deswegen" seltsam, da es
postfactum klar ist, daß gerade der Gegensatz zwischen
Liberalismus und Kommunismus den Hauptkonflikt der zweiten Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts ausmachte. Für Leont'ev (und nicht nur für
ihn) sah das Verhältnis anders aus. Nach Ansicht Leont'evs ebnet der
Liberalismus den Weg zum Kommunismus, weil die kommunistische Gleichmacherei
nur die konsequenteste Fortsetzung der bürgerlich-liberalen Gleichmacherei
sei. Leont'ev bestreitet nicht die Unverträglichkeit beider Ideen- und
Wertgefüge, meint aber dennoch, daß der Kommunismus aus dem
Liberalismus resultiert, wiewohl er ihn danach vernichtet: Wir haben es mit
einem dialektischen Übergang von etwas in sein Gegenteil zu tun. Genauer
gesagt erleichtert der Liberalismus mit seiner Mediokrität selbst den Sieg
seines sozialistischen/kommunistischen Feindes. "Mit der reinen all anwesenden
kapitalistischen und 'rationalen' Republik wird der Sozialismus, wenn seine
Stunde schlägt, viel leichter fertig werden als mit einer komplizierteren
Gesellschaft, in der die Kirche und die Monarchie und die höheren
Stände noch nicht ganz ihren Einfluß eingebüßt haben."[32]
Wie wird die kommunistische Gesellschaft aussehen?
"In seiner Absicht, eine völlige Gleichheit und einen vollkommenen
Immobilismus auf dem Wege einer ihnen vorausgehenden Zerstörung zu
erreichen, muß der Kommunismus unvermeidlich einerseits zu einer
erheblich kleineren ökonomischen Ungleichmäßigkeit, zu einer
ökonomischen Gleichmachung, die größer ist als die
jetzige, aber andererseits zu einer ungleich größeren
juristischen Ungleichheit führen."[33]
Und Leont'ev entwirft ein unheimliches Zukunftsbild, das die Geschichte
hundertprozentig bestätigte. In seinem "ungestümen Streben nach dem
Ideal der unbeweglichen Gleichheit" werde der Kommunismus "zu neuen
Privilegien, zur Einschränkung der persönlichen Freiheit und zu
zwangsweisen korporativen Gruppen [...], sogar
wahrscheinlich zu neuen Formen persönlicher Sklaverei oder Leibeigenschaft
(wiewohl einer indirekten, anders genannten ...) führen."[34]
Durch all das sieht sich Leont'ev berechtigt, den Kommunismus als eine Art
neuen Feudalismus zu charakterisieren. Der richtig verstandene Sozialismus
"ist nichts anderes als ein neuer Feudalismus der ganz nahen Zukunft,
wobei das Wort Feudalismus natürlich nicht in der engen und speziellen
Bedeutung des romanisch-germanischen Rittertums oder der Gesellschaftsordnung
eben der Zeit dieses Rittertums, sondern in seinem breitesten Sinn
verstanden wird."[35]
Dieser Feudalismus würde eine Dezentralisierung und auch - Leont'ev
wiederholt - "eine neue Leibeigenschaft gewisser Personen bei anderen
Personen und Einrichtungen, [die] Unterordnung gewisser Gemeinden unter
andere Gemeinden[...]",[36] bedeuten.
Dieser ultradespotische neue Feudalismus werde gerade von der ultraliberalen
Gesellschaft ermöglicht, deren Exzesse entweder eine totale
Gesellschaftskatastrophe oder eine Transformation "auf der Grundlage ganz
neuer und schon gar nicht liberaler, sondern im Gegenteil extrem repressiver
(stesnitel=nych) und auf Zwang basierender Prinzipien"[37] hervorrufen würden. Das würde nämlich eine
"neue Form der Sklaverei" sein.[38]
Hinsichtlich der "Topographie" der kommunistischen Revolution schwankt
Leont'ev. Anfänglich dachte er an den Westen und vor allem an
Frankreich.
Aber bereits damals ahnte er, daß dies doch in irgendeiner Form auch mit Rußland verbunden sein würde, wobei er sich diesen Zusammenhang nur vage und sozusagen tastend vorstellt. Leont'ev wägt, wie man heute sagt, verschiedene "Szenarien" ab. Einmal vermutet er, daß zuerst eine "alleuropäische Arbeiterrepublik" entsteht, die so stark ist, "daß sie imstande wäre, auch uns zu zwingen, dieselbe soziale Form anzunehmen, 'mit Feuer und Schwert' uns in ihre Föderation einzuschließen (vtjanut')."[39] Ein anderes Mal vermutet er, daß die
"sozialistische Meuterei" in Paris ausbrechen wird. Aber am Ende neigt Leont'ev
immer mehr zur Annahme, daß der Kommunismus zuerst gerade in
Rußland siegen wird. Dieses Zukunftsereignis erlebt er wie eine
eschatologische Katastrophe. Wenn das russische Volk seinen Gehorsam und seine
Demut verliert, dann "wird sich nach einem Halbjahrhundert, nicht später,
allmählich und ohne daß es das selbst bemerkt, das
'Gottträger'- Volk in ein 'Gottesleugner-Volk' verwandeln, und sogar
rascher a1s jedes andere Volk."[40]
Die revolutionär-kommunistische Perspektive bringt Leont'ev in
Verzweiflung. In einer Art Selbstgespräch, das Bekenntnis, Gebet und
Schrei der Seele in eins ist, kämpft seine flehentliche Hoffnung auf die
Rettung mit den sich mehrenden Beweisen des Gegenteils:
"Hat Proudhon doch Recht und zwar nicht im Hinblick auf Europa allein, sondern
auf die ganze Menschheit? Ist das in der Tat Gottes Entscheidung
für unser teures Rußland?! Werden wir auch nicht sehr lange nach den
anderen zu fühlen beginnen, daß wir unaufhaltsam auf
diesem verfluchten Weg dahinstürmen?! [...] Wenn dem so ist, dann ist
alles verloren! [...] Gibt es wirklich keine Hoffnung? Nein, immer noch gibt es
eine Hoffnung - die Hoffnung gerade auf Rußland."[41]
In einem anderen, emotional ruhigeren Text sieht Leont'ev genauer und klarer
die finstere Zukunft voraus:
"Die russische Gesellschaft, die schon ihrer Gewohnheit nach der
'Gleichmachung' huldigt, wird noch rascher als alle anderen
vorwärtsstürmen auf dem tödlichen Wege der allgemeinen
Vermischung. Wird sich aber nicht ein durchaus nivelliertes Rußland mehr,
als wir ahnen, an die Spitze jener allgemeinen umstürzlerischen
internationalen Bewegung stellen, die unwiderruflich danach strebt,
endgültig alle und alles zu vermischen, und das letzte 'Mene Tekel
Upharsin' auf das einst so große Kultur- und Staatsgebäude des
Westens zu schreiben, mit anderen Worten, die Menschheit umzubringen und damit
die Weltgeschichte zu beenden? Das wäre ja eine Art von Berufung, eine
historische Bestimmung von ganz besonderem Charakter!"[42]
Alles in allem verdient die prognostische Kraft von Leont'ev hohes Lob. Er hat
vieles ganz richtig vorhergesagt, dabei nicht nur in großen Strichen,
sondern manchmal auch in Details. Er sieht klar die Spannung zwischen
ökonomischer Gleichheit und juristisch-politischer Ungleichheit beim
Kommunismus, die eine Inversion der Spannung zwischen juristisch-politischer
Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit im (liberalen) Kapitalismus
darstellt.
Während auch die anderen Prognostiker die Unfreiheit, die die neue Gesellschaft kennzeichnen wird, voraussagen, macht Leontev auf ein anderes Attribut des Kommunismus aufmerksam: seine lethargische Statik. Leont'evs prägnante Formel "Ideal der unbeweglichen Gleichheit" ist die beste uns bekannte Umschreibung dieses genuin reaktionären Charakterzuges des angeblich fortschrittlichsten Systems. Sie veranschaulicht überzeugend die Schärfe des in die Zukunft eindringenden Verstands des russischen Denkers. Was sich zu seinen Lebzeiten dem Blick unmittelbar aufdrängte, war die stürmische Dynamik der Revolution und nicht die kaum sichtbaren Keime eines späteren Ultrakonservatismus. Dies zu erkennen, war nur ein ungewöhnlich starker Intellekt imstande.
Die verblüffende Treffsicherheit seiner Prognose der künftigen
"Leibeigenschaft" spricht für sich, sie braucht keine Kommentare. Auch
partielle, aber symptomatische Aspekte des neuen "Feudalismus" entgehen ihm
nicht. So sieht er klar die Konturen der zukünftigen Zwangsarbeitslager
(rabočie poselenija) voraus. Er spürt, obschon vage, sogar
die berühmte Idee eines "gleichzeitigen Siegs des Sozialismus in den
wichtigsten kapitalistischen Ländern" (in seiner Sprache: vereinigte
sozialistische Republik Europas oder europäische sozialistische
Föderation). Und er erreicht das Maximum der menschlichen prognostischen
Kraft, indem er, nach einiger Schwankung, prophezeit, daß ausgerechnet
Rußland das erste kommunistische Land sein werde. In einer Epoche, als
Rußland noch halbfeudal war, konnte nur ein sehr luzider Geist diese
Entwicklung vorhersagen.
Wenn es in Leont'evs Zukunftsbild Fehler gibt, so handelt es sich nicht so sehr
um falsche Prognosen, sondern um falsche Erklärungen. Seine Betrachtung
des Kommunismus als eine notwendige Konsequenz des Liberalismus ist
nämlich grundfalsch. Leont'ev bezieht sich nur auf das juristische
Gleichheitsprinzip des Liberalismus, das in der Tat die geistige Nivellierung
begünstigen kann, ignoriert aber das Freiheitsprinzip, das den Kommunismus
ausschließt.
Wie ist überhaupt das Verhältnis zwischen Leont'evs extrem
reaktionären politischen Ideen und seiner Prognostik? Der Kontrast
zwischen der Ungereimtheit seiner anachronistischen Aufforderungen zur
Konservierung der Selbstherrschaft und der Richtigkeit seiner Prognosen
fällt ins Auge. Handelt es sich hier um bloße Heterogenität des
Denkens, um Ungleichwertigkeit verschiedener Gedanken? Unserer Ansicht nach ist
der Zusammenhang inniger. Mag es auch paradox klingen, gerade seine
fragwürdigen allgemeinen Positionen bedingen die Richtigkeit der
Voraussagen. Die Radikalität seines reaktionären Denkens macht ihn
besonders empfindlich auch für die frühesten Symptome der
kommunistischen Gefahr; diese Radikalität schärft seine "Sehkraft".
Natürlich gibt es hier keineswegs eine echte Deduktion. Es gibt zahlreiche
Reaktionäre kleineren Formats, die gar nicht imstande wären, sich den
Kommunismus richtig vorzustellen. Noch weniger stimmt die umgekehrte Dependenz.
Die richtigen Prognosen des Kommunismus setzen nicht reaktionäre
Überzeugungen voraus. Es ist nicht nötig, reaktionär zu sein, um
die kommunistische Zukunft zu prognostizieren. Aber das kann der Fall
sein, wie bei Leont'ev.
Bei Leont'ev haben wir eine selten vorkommende harmonische Vermengung von
Visionär und Prognostiker. Wir führten Stellen an, wo er mit
alttestamentarischem Pathos spricht, aber seine Argumente sind rational. Eher
befindet sich, wie wir am Anfang dieses Aufsatzes erläutert haben, die
visionäre Intuition in einer natürlichen Einheit mit der diskursiven
Deduktion.
5. Aleksandr Bogdanov: Vernichtungskriege zwischen den Genossen
Die Zukunftsvision von Aleksandr Bogdanov (1873-1928) ist so eigenartig wie
Bogdanov selbst. Aleksandr Bogdanov ist eine unkonventionelle, schwer
klassifizierbare Figur der russischen Arbeiterbewegung. Bolschewik, aber
philosophischer Opponent Lenins, versuchte er die dogmatische Starrheit des
orthodoxen Marxismus zu überwinden. Bald toleranter als der
bolschewistische Mainstream, bald noch engstirniger als letzterer (er ist der
Vater des totgeborenen "Proletkults"), war dieser vielseitig und vielleicht
genial begabte Mann auf vielen Gebieten aktiv: Eigentlich Arzt und
Naturwissenschaftler, war er auch Autor von erfolgreichen ökonomischen und
philosophischen Werken. Ohne Zweifel war er ein Vorläufer der
Systemtheorie und der Kybernetik und besaß auch literarisches
Talent.
Bogdanov war überzeugter, aber kritischer Marxist, und das eben
prägte die Eigenart seines Zukunftsbilds, das er in seinem Roman Der
rote Stern (1908) darstellte. Die Tatsache, daß Bogdanov am
Sozialismus festhält, stumpft die Schärfe seiner Prognosen ab. Seinem
Werk fehlt gänzlich der Sarkasmus von Orwell und Zamjatin. Das ist eine
kluge, aber doch "liebevolle" Kritik am Sozialismus. Somit ist Bogdanovs
Vision, was den Kern betrifft, nicht sehr tief. Trotzdem trifft sie mit
erstaunlicher Präzision Krisenerscheinungen des "real existierenden
Sozialismus", die sechzig Jahre später entstanden.
Bogdanov verwendet zwei literarische Techniken, die ihm erlauben, eine
geschickte Romanhandlung zu konstruieren: den amüsanten Kunstgriff eines
"entdeckten Manuskripts" und die "Reise ins All" der science fiction.
Zum Topos seiner Sozialismusvision wählt der phantasierende Bolschewik den
Mars (den "Roten Planeten"), wo der russische Revolutionär Leonid mit
Hilfe von Marsmenschen landet. In seinem Tagebuch, das Bogdanov
angeblich nur herausgibt, beschreibt Leonid seine Eindrücke vom
Mars.
Was hat der Russe auf dem Mars gesehen?
Der "Rote Planet" ist rot auch im übertragenen Sinn. Der Sozialismus hat
schon vor 200 Jahren gesiegt. Die Marsbewohner verfügen über
Wissenschaft und Technik, die viel höher entwickelt sind als auf der Erde.
In Bogdanovs Beschreibung (1908!) wird der Leser mühelos das Fernsehen und
die Videokamera, die Kunststoffe und die Antimaterie erkennen. Aber das ist nur
der technische Hintergrund einer neuen sozialen Welt. Leonid stellt dort die
Verwirklichung der Träume aller Sozialutopisten von Campanella über
Fourier bis Černyševskij fest: helle, angenehme
Fabrikgebäude, keine Arbeitspflicht, freudige, kurzdauernde Arbeit auf
eigene Entscheidung, harmonische Verhältnisse zwischen Geschlechtern und
Generationen, weitgehender Verzicht auf Gewalt, organische Verschmelzung von
Kunst und Leben, Übergang von nationalen Sprachen zu einer universalen
Sprache.
Aber die Marsgesellschaft bereitet dem russischen Revolutionär auch eine
Reihe ernüchternder Überraschungen und Enttäuschungen, Sie sind
erstens existentiell-persönlicher Art. Ja, auf dem Mars gibt es
auch Geisteskranke und Selbstmörder, die wegen Überempfindlichkeit,
Lebenserschöpfung, unglücklicher oder gescheiterter Liebe ihrem Leben
ein Ende setzen.[43] Enno, ein
Gesprächspartner von Leonid, verspottet dessen naive Erwartung "ruhigen
Glücks" im Sozialismus. Es stimme, daß zwischen den Marsmenschen
Frieden herrsche, aber nicht zwischen ihnen und der Natur, und die Niederlagen
im Kampf mit ihr bedrücken auch die einzelnen Individuen.[44] Offenbar sei die sozialistische Gesellschaft nicht
imstande, die Tragik der individuellen Existenz zu beseitigen. Und Enno
erklärt dem naiven Russen die Ursache seines Irrtums. Die Erdenmenschheit
befinde sich in einer niedrigeren Entwicklungsphase, sie sei noch vom
Klassenkampf ergriffen, der auf dem Mars der Vergangenheit angehöre, daher
empfänden die Erdensozialisten nicht die Tragik der Existenz qua Existenz:
"wenn es bei uns ein Glück gibt, [dann ist] dieses keineswegs das
friedliche und ruhige Glück [...], von dem Sie sprechen."[45]
Aber das ist nicht alles. Der schonungslose Realist Enno zertrümmert die
letzten Reste jenes Idylls, das die Erdensozialisten sich vorstellen, wenn sie
versuchen, die sozialistische Zukunft zu prognostizieren. Nicht nur würden
die Menschen im Sozialismus um kein Iota glücklicher als im Kapitalismus,
sondern sie würden noch unglücklicher sein: "je [...]
harmonischer das Leben, desto quälender und unvermeidlicher wirken die
Dissonanzen."[46]
Mit der Erkenntnis der mit sozialen und politischen Mitteln unaufhebbaren
Tragik des Individuums entmythologisiert Bogdanov bis zu einem gewissen Grad
den zukünftigen Sozialismus. Aber neben der existentiellen (oder
metaphysischen) Tragik erleben die Marsmenschen auch dramatische Ereignisse und
Schwierigkeiten typisch gesellschaftspolitischer Art. Und zwar zeichnet
sich auf dem "roten Planeten" eine doppelte
ökologisch-demographische Krise ab: die Ausbeutung der Natur
beschleunigt sich mit rasendem Tempo, auf unheimliche Weise vermehrt sich die
Bevölkerung und ihre Bedürfnisse steigen. "Schon mehr als einmal
bedrohte uns auf dem einen oder anderen Arbeitsfeld die Erschöpfung der
Naturkräfte und Mittel."[47] Versiegen
der Steinkohlenvorräte, Abholzen der Wälder, Verschlechterung des
Klimas: mit diesen Problemen hat die Marsmenschheit zu tun. Die Situation wird
immer brisanter, die führenden Experten erwägen mehrere Strategien.
Der einflußreiche "Vordenker" Sterni formuliert das Dilemma: entweder
Beschränkung der Natalität oder Kolonialexpeditionen (!).
Geburtsbeschränkung sei aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen:
"keine Kapitulation vor der Natur!"[48] Es
bleibt nur die "Kolonisierung" der an Naturschätzen reichen Erde. Da aber
mit dem heftigen, verzweifelten Widerstand der Erdenmenschheit zu rechnen ist,
schrickt Sterni nicht vor einem kaltblütigen Vorschlag zurück:
"die Kolonisierung der Erde fordert die völlige Ausrottung der
Erdenmenschen."[49] Auch für die
Erdensozialisten darf keine Ausnahme gemacht werden - weder wenn sie
noch in der Opposition sind, weil eine derartige Ausnahme technisch
unmöglich wäre, noch wenn auf der Erde bereits sozialistische Staaten
existieren: "ihr Sozialismus ist noch lange nicht unser Sozialismus."[50] Er wird bestimmt durch viele Laster des
Kapitalismus angesteckt. Das Hauptargument dieser zynischen Staatsräson
ist merkwürdig und erinnert an die "Weltanschauung" eines Mannes, der
freilich weder Kommunist noch Sozialdemokrat war, nämlich Adolf Hitler. Es
lautet: "Das höhere Leben darf nicht dem niederen geopfert
werden."
Die Kenntnis von alledem löst bei Leonid einen gewaltigen Schock aus, und
er tötet Sterni. Die weiteren mysteriösen Begebenheiten, die eher zum
konventionellem Instrumentarium solcher Prosawerke gehören, sind belanglos
für unser Thema.
Das Originelle an Bogdanovs prognostischem Modell besteht darin, daß er
avant la lettre eine Auffassung konzipiert, die etwa fünfzig bis
sechzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans als "Revisionismus" oder
"kritischer Marxismus" in Ost- und Mitteleuropa auftrat. Die Thesen des
Marssozialisten klingen wie Zitate aus den Werken von Adam Schaff,
Mihály Vajda oder Wolfgang Harich. Der "Revisionismus" der
osteuropäischen Neomarxisten war retrospektiv. Der Bogdanovsche
"Revisionismus" war prognostisch. Das Verdienst Bogdanovs ist besonders
groß, weil er ohne das von ihm Vorausgesehene beobachten zu können,
allein durch die Kraft seiner Logik und Intuition die Dinge richtig erkannte.
Bogdanov lehnt die marxistische Eschatologie grundsätzlich nicht ab,
reduziert aber ihren Bereich. Der "harmonische" Zustand bezieht sich nur auf
das Gesellschaftliche im engen Sinn des Wortes. Der Sozialismus kann nicht das
von Naturkatastrophen verursachte Unglück und noch weniger die Tragik der
menschlichen Kondition beseitigen.
Aleksandr Bogdanov hat das für die meisten Marxisten um 1908
Unvorstellbare vorausgesehen: Kriege zwischen sozialistischen Staaten. Auf
einer kosmischen Schaubühne situiert er imaginäre Ereignisse, in
deren Schilderung eine Vorahnung von realen blutigen Ereignissen zum Ausdruck
kommt, die sich 60 bis 70 Jahre später auf der Schaubühne unserer
Erde, genauer gesagt: an der chinesisch-sowjetischen und
vietnamesisch-chinesischen Grenze abgespielt haben. Ferner erkannte er,
daß auch der Sozialismus schwere ökologische Probleme haben werde -
das sagte er zu einem Zeitpunkt voraus, als die breite Öffentlichkeit das
nicht einmal in Bezug auf den damals einzig herrschenden Kapitalismus
vermutete.
Alles in allem wird Bogdanovs Vision durch eine bemerkenswerte Scharfsinnigkeit
gekennzeichnet, die aber eine gewisse Grenze nicht überschreiten kann -
nämlich die Annahme, der Sozialismus sei trotz allem die bestmögliche
Ordnung. Deswegen dringt sein Denken nicht ins tiefste Wesen des Kommunismus
ein. Als einziger unter den hier betrachteten Prognostikern hat er nicht den
repressiv-despotischen Charakter des neuen Staatswesens geahnt. Das Bekenntnis
- trotz der nicht unwichtigen Korrekturen - zum marxistischen Grundsatz macht
ihn inkonsequent. Sein Werk ist eine Mischung von weitsichtiger Antiutopie und
unkritischer Utopie.
6. Evgenij Zamjatin: Die "algebraische Liebe zur Menschheit"
Die erste große Antiutopie (vor Huxley und Orwell) in der Weltliteratur
entstand in jenem Land, wo sich die Utopien zum ersten Mal zu "verwirklichen"
begannen - in Rußland. Geschrieben 1920 (aber erst 1935 in einem
Exilverlag veröffentlicht), ist der Roman von Zamjatin Wir
(My) unter dem Eindruck der soeben errichteten bolschewistischen
Diktatur konzipiert worden. Die embryonalen Formen des Totalitarismus, die der
Schriftsteller beobachten konnte, ließen ihn mit aller Deutlichkeit
ahnen, was aus alledem entstehen werde. Evgenij Zamjatin (1884-1937) beschreibt
einen imaginären totalitären Staat der Zukunft, wie ihn der
Erzähler - ein Musterbürger, der, wie Winston bei Orwell, zuerst
langsam aus seiner ideologischen Betäubung erwacht, aber am Ende doch
wieder vor dem System kapituliert. Der von Zamjatin geschilderte Staat ist ein
Reich der extremen Unifizierung und Nivellierung. Bereits sein offizieller Name
- der "einheitliche Staat" - zeigt eindeutig, was er anstrebt, wovon er sich
leiten läßt. Das Leben der Untertanen ist reglementiert bis auf die
Minute. Es gibt Zeit für Essen, Schlaf, Arbeit, Studium, ideologische
Erziehung. Die Behörden erlauben gnädigst auch "persönliche
Stunden" (von 16-17 und von 21-22 Uhr),[51]
was per Kontrast die Unfreiheit noch deutlicher macht, als wenn in diesem Reich
gar keine freie Zeit bestünde. Die Menschen tragen die gleiche Kleidung.
Alles ist "einheitlich" und "staatlich". Die einzige Zeitung des Landes
heißt Staatszeitung.[52] Die
Wissenschaft heißt offiziell "Einheitliche Staatswissenschaft".[53]
Das für alle obligatorische Wochenprogramm sieht auch "Liebe" vor, wobei
die Männer und Frauen auf Antrag ein "Rosabillet" erhalten, mit dem sie
zum Partner oder zur Partnerin gehen. Während der "Liebe" - und zu keiner
anderen Zeit! - ist es erlaubt, die Vorhänge zuzuziehen.[54]
Was aber der Gleichmacherei die Krone setzt, ist die Tatsache, daß die
Menschen keine Namen, sondern nur Nummern haben (der Erzähler und
Hauptheld des Romans hat Nummer D-503, die femme fatale seines Lebens
heißt I-330). Es scheint, daß der Begriff der Persönlichkeit
verschwunden ist. Die Behörden wenden sich an die Untertanen mit: "Werte
Nummern!"
An der Spitze des "Einheitlichen Staats" steht "Der Wohltäter" (wie der
Big Brother bei Orwell). Der "Wohltäter", den Zamjatin
subtilerweise auch anonym läßt, ist alles, vse i vsja, wie
die Russen sagen, vor ihm zittern und ihn verehren die Massen (im
Totalitarismus gehen Zittern und Verehrung Hand in Hand). Der Wohltäter
stützt seine Macht auf das "Büro der Hüter", die
allmächtige politische Polizei, deren Agenten überall lauern. Die
wenigen "Nummern", die zu opponieren wagen oder sogar nur Zweifel zum Ausdruck
bringen, werden verhaftet und durch spezielle Maschinen "annihiliert", d.h. von
ihnen bleibt im buchstäblichen Sinn des Wortes nichts
übrig.
Welches sind die Grundsätze dieses Systems? Das irreale Reich des
"Wohltäters" hat dasselbe metaphysisch-weltanschauliche Fundament wie der
reale Kommunismus. Der beredte und linientreue Untertan R-l gibt der
Genesiserzählung vom Sündenfall ein gewisses Recht und formuliert das
im biblischen Text richtig erkannte Grunddilemma der menschlichen Kondition und
des menschlichen Verhaltens so: "entweder Glück ohne Freiheit - oder
Freiheit ohne Glück; ein Drittes ist nicht gegeben."[55] Die Menschen hätten einen kapitalen Fehler begangen:
sie wählten die Freiheit. "Sie, diese Tölpel (oluchi), haben
die Freiheit gewählt - und was? Klar, sie sehnten sich ganze Jahrhunderte
nach den Fesseln."[56] Aber dieser Fehler sei
korrigiert, und man lebe von neuem im Paradies, die Menschen seien wieder so
schlicht und unschuldig wie Adam und Eva vor dem Sündenfall - fährt
R-l im Stil des Großinquisitors fort. Die kommunistischen Ideologen
drücken normalerweise nicht die letzten schockierenden Konsequenzen ihrer
Lehren aus, sie greifen (dabei gar nicht absichtlich, sondern als
Selbsttäuschung) zu Doppeldeutigkeiten und vagen Formulierungen, Ausreden
und Vorbehalten. Z.B. behaupten sie, daß sie gar nicht gegen die
Freiheit, sondern nur gegen die "formale", "abstrakte" usw. Freiheit seien,
mehr noch, eben sie seien Verfechter der "wirklichen Freiheit". Zamjatin tut
für die Kommunisten das, wozu sie logischerweise verpflichtet wären -
er zieht explizit die Schlüsse, die sich aus den kommunistischen
Lehrsätzen ergeben. Er nennt eine Katze eine Katze. Daher klingen manche
der ideologischen Prinzipien des Einheitlichen Staates nach dem beißenden
Sarkasmus der ungewollten Selbstentlarvung: "es ist Ihre Pflicht,
glücklich zu sein."[57] Oder ein Dutzend
Menschen ("Nummern") zu opfern - das sei eine Bagatelle. "Nur die Alten kannten
das arithmetisch-analphabete Mitleid: wir finden es lächerlich."[58]
Die braven "Nummern" verachten das Poetische und Romantische und
überhaupt die feinen Regungen der Seele und verhöhnen sie als
beweinenswerte Rezidive der Vergangenheit. Die Phantasie sei eine Krankheit,
die "operativ-chirurgisch" geheilt werden kann.[59] Im "Einheitlichen Staat" entfernt man also die Phantasie,
wie man die Mandeln entfernt. Die schöpferische Inspiration sei eine
psychische Krankheit, eine "unbekannte Form der Epilepsie".[60] Mit solchem vernichtenden Sarkasmus enthüllt
Zamjatin die Kunstfeindlichkeit des Totalitarismus.
Aber den ideologischen Schlußakkord gibt der "Wohltäter"
höchstpersönlich, der dem schuldigen D-503 die Ehre und Gnade
erweist, seine Fehler einer wohlwollenden "kameradschaftlichen" Kritik zu
unterziehen: "die echte, algebraische Liebe zur Menschheit ist unbedingt
(nepremenno) unmenschlich, und ein unbedingtes Merkmal der Wahrheit ist
die Grausamkeit."[61] Und weiter: Die Menschen
hätten zu allen Zeiten davon geträumt, daß "ihnen jemand ein
für allemal sagt, was das Glück ist und sie dann an dieses Glück
kettet [...] Was anderes tun wir, wenn nicht das?"[62]
Auch Zamjatin verdanken wir ein beeindruckendes Bild des kommunistischen Totalitarismus. Der Schriftsteller hat die nahende Herrschaft des "Vaters der Völker" sowie das von ihm geschaffene kollektivistisch-egalitaristische System genau gespürt. Die stalinistische Wirklichkeit stand der Zamjatinschen Fiktion nicht sehr viel an Groteskem nach.
Aber auch im Roman von Zamjatin gibt es zeitbedingte Abweichungen der
Vorhersage von der Realität. Das ist vor allem der
technisch-maschinisierte Charakter der vom Wohltäter regierten
Gesellschaft. Das Reich des Wohltäters ist ein Reich von Maschinen und
Apparaten, Gleichungen und Konstruktionen. Das war aber die stalinistische
Sowjetunion nicht: trotz aller Aufforderungen zur "Beherrschung der
fortschrittlichen Technik" war die Parteilinie gegen jede "Technisierung" der
gesellschaftlichen Vorgänge. Das Politisch-Ideologische besaß die
eindeutige Priorität gegenüber der Technik, "die auch der Bourgeoisie
dienen kann". Auch der Status der Gefühle, der Romantik, der Phantasie und
der Liebe war komplizierter. Die "schönen Träume", die "progressive
Romantik", die "reinen Gefühle" und bis zu einem gewissen Grad die
sexuelle Enthaltung waren echte Imperative der kommunistischen Moral- und
Erziehungstheorie in der stalinistischen Periode.
In diesen Punkten war Zamjatins Vision von dem unmittelbaren Erlebnis der
Frühphase der Sowjetmacht beeinflußt, wo sich in der Tat eine Art
pathetische, futuristisch gefärbte Mythologie der Technik ausbreitete, und
die extreme Vulgarisierung der Sexualethik (die berühmt-berüchtigte
Theorie von Aleksandra Kollontaj, dergemäß ein Geschlechtsakt
genauso einfach sei wie das Trinken von einem Glas Wasser!) eine große
Mode war.
In dieser Diskrepanz zwischen Prognose und Wirklichkeit zeigen sich noch einmal
die Grenzen der Vorwegnahmen. Die Beobachtung der Keimform eines Phänomens
erlaubt dem Zeitgenossen viel, aber nicht alles, richtig
vorauszusehen.
7. Fazit
Die Versuche, den Schleier der Zukunft zu heben, die wir dargestellt und
analysiert haben, sind, wie der Leser gesehen hat, sehr heterogen. Sie
unterscheiden sich nach ihrem Wahrheitsgehalt. Die Treffsicherheit mancher
Texte verblüfft, andere sind mehr vage und verschwommen. Aber auch die
Art dieses Wahrheitsgehalts ist verschieden: in den theoretischen Texten
ist die Präzision direkt, in den literarischen Werken betrifft sie nicht
die realen empirischen Tatsachen. Die darin enthaltenen Vorhersagen sind wahr
nur im übertragen-konventionellen Sinn, was sie aber - wie bei Dostoevskij
und Zamjatin - nicht daran hindert, tiefer und begründeter als viele
mediokre theoretische Werke zu sein. Neben der Vielfalt der literarischen
Formen ist auch die Vielfalt der Positionen oder der Stellungen zur Zukunft
hervorzuheben. Ganz bemerkenswert ist, daß die von Repräsentanten
verschiedener, ja entgegengesetzter Ideen erarbeiteten Prognosen konvergieren.
Die Gegner des Sozialismus Dostoevskij, Leont'ev und Zamjatin sagen mehr oder
weniger dasselbe voraus, was auch die Anhänger oder Sympathisanten des
Sozialismus Gercen, Bakunin und Bogdanov ahnen. Hier zeigt sich die Autonomie
der nach der Wahrheit strebenden Erkenntnis, die sich nicht von den subjektiven
Werten trüben läßt. Der starke Intellekt kann sich dem
Wunschdenken widersetzen und der Selbsttäuschung vorbeugen. So hinderten
die Sympathien Gercens und Bogdanovs für den Sozialismus, ja ihre
sozialistischen Überzeugungen sie nicht daran, die Tragödien des
sozialistischen Zeitalters prognostisch zu erkennen und ein Bild zu zeichnen,
das wichtige Ähnlichkeiten mit dem von den Gegnern des Sozialismus
Dostoevskij und Leont'ev gezeichneten besitzt.
Eine Mannigfaltigkeit weisen auch die Zeit- und Raumkoordinaten der Prognosen
auf. Natürlich gilt das Interesse der Autoren hauptsächlich ihrer
russischen Heimat, aber oft betrifft die Prognose nicht nur Rußland,
sondern auch den Westen (Leont'ev und Gercen), und was Bakunin anbelangt, so
hat er vor allem den Westen vor Augen. Die Handlung der Zamjatinschen
Antiutopie spielt sich in einem imaginären Land ab, wurde aber von den
russischen Ereignissen angeregt, und Bogdanovs Mars-Sozialismus versinnbildet
alle Länder.
Das Zeitintervall, das die Prognosen von der Realität trennt, variiert.
Die zeitlich entfernteste Prognose reicht ganze 140 Jahre in die Zukunft:
Gercen sah die "sanften Revolutionen" in einem 1850 veröffentlichten Text
voraus. Am anderen Pol steht Zamjatin. Die in seiner Antiutopie (1920)
dargestellte Gesellschaft wurde mit dem endgültigen Sieg des Stalinismus
10 bis 15 Jahre später zur Realität.
Die hier behandelten Prognosen sind nicht genetisch verbunden. Sie sind nicht
als einzelne, logisch zusammenhängende Phasen einer Entwicklungslinie, die
getrennt entstehen, einander ergänzen und radikalisieren, anzusehen. Es
wäre falsch, eine derartige Konstruktion zu entwerfen. Allerdings gibt es
einen Einfluß. So sind in den Tiraden des Zamjatinschen "Wohltäters"
die Intonationen des Großinquisitors zu hören.
Von einer kontinuierlichen Entwicklung der Zukunftsprognosen in Rußland
kann man nicht reden, wohl aber von einer gewissen geistigen Atmosphäre,
die für diese Prognosen günstig war. Rußland ist nicht nur das
Land der sozialen Träumereien, sondern auch das Land der tiefen Einsicht
in das reale Äquivalent dieser Träumereien. Nicht nur schaffen
russische Denker Mythen, sondern sie entmythologisieren diese Mythen
auch.
Davon zeugen u.a. einzelne Aussagen, aperçus, Feststellungen,
Texte, die keine ausgearbeiteten Prognosen sind und deswegen von uns nicht
behandelt werden, aber doch tiefe und aufschlußreiche Lichtblicke in die
Zukunft sind. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Parabel von Leonid
Andreev "So war es", wo als Begleitung zu den Ereignissen einer imaginären
Revolution, die mit neuer Tyrannei endet, das Ticktack der Pendeluhr erklingt:
"So war es - so wird es sein" (Tak bylo - tak budet).[63]
Es ist klar: Die klugen Köpfe waren sich der Gefahr des
Fortschrittsaberglaubens und der sich daraus ergebenden Versuche, die
Menschheit gewaltsam zu beglücken, bewußt. Sie fanden wenig
Gehör, aber das ist leider überwiegend der Fall in der Geschichte.
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