Lag dem nationalsozialistischen Judenmord in Ungarn wirtschaftliches Kalkül zugrunde?

Zum Buch von Christian Gerlach und Götz Aly: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden. München, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2002, 483 S.


Obwohl das Horthy-Regime in Ungarn einen traditionellen Antisemitismus pflegte und im Zuge der mit allerhand Territorialgewinnen vergüteten An-näherung an das NS-Regime zwischen 1938 und 1941 drei massiv diskrimi-nierende Judengesetze erließ und Juden zu einem oft brutalen Arbeitsdienst einzog, lebten die rund 750.000 Juden (ca. fünf Prozent der Bevölkerung) hier bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in relativer Sicherheit. Wäh-rend überall in dem von Deutschland besetzten Europa, von Griechenland bis Norwegen, von der französischen Atlantikküste bis tief hinein in die Sowjetunion, eine mörderische Verfolgung stattfand, schien in Ungarn zumindest die physische Existenz der meisten Juden gesichert. Bezeichnend für die Situation war Horthys Begegnung mit Hitler auf Schloß Kleßheim in der Nähe von Salzburg im April 1943. Auf den deutschen Druck zu einer weiteren Verschärfung der antisemitischen Politik reagierte der ungarische Reichsverweser mit der Bemerkung, er habe den Juden nun schon so ziem-lich alle Lebensmöglichkeiten genommen, erschlagen könne er sie doch nicht. Darauf schaltete sich der deutsche Außenminister Ribbentrop in das Gespräch ein und erklärte, daß die Juden entweder vernichtet oder in Kon-zentrationslager gebracht werden müßten. Genau das geschah, nachdem im März 1944 deutsche Truppen Ungarn besetzt hatten, um ein Ausscheren der Magyaren aus dem Kriegsbündnis zu verhindern. Die Shoah erreichte die ungarischen Juden.

Zwar blieb Horthy Reichsverweser – SS-Brigadeführer Eduard Veesenmayer, der nach dem Einmarsch als Bevollmächtigter des Großdeutschen Reiches in Ungarn an der Spitze der Besatzungsregimes stand, hatte schon im Jahr zuvor erklärt, es komme darauf an, ihn zu einem „Soldaten des Führers“ zu machen –, doch wurde Ministerpräsident Kállay, der auf einen Kriegsaustritt hingearbeitet hatte, durch den kollaborationswilligen ehema-ligen Gesandten in Berlin, Döme Sztójay, ersetzt. Die Juden wurden gettoi-siert, das Land in sechs Zonen eingeteilt, aus denen dann Zug um Zug ihre Deportation zumeist nach Auschwitz erfolgte, wo Rudolf Höss erneut das Kommando übernommen hatte. Das alles lief in einem rasanten Tempo ab: Zwischen Ende April 1944 als die Deportationen begannen und Anfang Juli 1944, als Horthy ihren vorläufigen Stopp verfügte und im wesentlichen nur noch die Budapester Juden übrig waren, erfaßten sie rund 430.000 Menschen, von denen drei Viertel sofort in Auschwitz ermordet wurden. Als Horthy, weil er versucht hatte, Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen, im Oktober von den faschistischen Pfeilkreuzlern im Einvernehmen mit den deutschen Besatzungsbehörden gestürzt wurde, wur-den noch einmal Tausende auf qualvolle Fußmärsche in Richtung Reichs-grenze zum Schanzenbau geschickt oder fielen dem Terror der faschistischen Formationen zum Opfer.

Das Dritte Reich stand, auch wenn sich viele immer noch von der Endsieg-Propaganda verblenden ließen, im Frühjahr 1944 bereits mit dem Rücken an der Wand. Daß auch in dieser Situation erhebliche Anstrengungen auf die Ermordung der ungarischen Juden verwendet wurden, anstatt sich ganz auf kriegswichtige Aktivitäten zu konzentrieren, wird häufig als Argument für die antisemitische Besessenheit des NS-Regimes angeführt. Gegen diese Ansicht ist die Darstellung von Christian Gerlach und Götz Aly gerichtet. Beide haben sich mit Forschungen zur nationalsozialistischen Ver-nichtungspolitik profiliert, denen ein gemeinsames Motiv zugrunde liegt, nämlich die Suche nach Elementen einer ökonomischen Rationalität in dieser, und sie haben dabei auf Zusammenhänge und Beteiligte aufmerksam gemacht, die bis dahin im Dunkel geblieben waren. Gerlach hat dies vor allem in seiner großen Darstellung der deutschen Besatzungspolitik in Weißrußland getan [1], die ernährungspolitischen Planungen eine zentrale Funktion zuschreibt, während Aly, bereits seit den späten 80er Jahren der „Ökonomie der Endlösung“ auf der Spur, bestrebt ist, den Holocaust in die Geschichte einer negativen Bevölkerungspolitik im 20. Jahrhundert einzu-ordnen. Anders als Randolph L. Brahams zweibändiges, in der erweiterten zweiten Auflage von 1994 fast 1.500 Seiten umfassendes Standardwerk „The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary“ ist die Studie von Gerlach und Aly keine Gesamtdarstellung im eigentlichen Sinn. Es geht den beiden deutschen Historikern, denen mangels ungarischer Sprachkenntnisse auch nicht alle einschlägigen Quellen und Publikationen zugänglich sind, eher um den „Fall“ Ungarn. Die Autoren bestreiten die dominierende Be-deutung des nationalsozialistischen Antisemitismus als Motiv für den Holocaust; sie wollen gewissermaßen am Extrembeispiel Ungarn die „Kontextualisierung des Völkermords und die Multikausalität seiner Herleitung“ (S. 442) demonstrieren und zeigen, „daß neben einer eher traditionellen antijüdischen Einstellung und rassistischer Propaganda reale und vital erscheinende Interessen vorhanden sein mußten, um die Vernichtungsmaschine in Gang zu bringen und in Gang zu halten“ (S. 13 f.).

Sie betonen die kriegsökonomischen Gründe für den Einmarsch in Ungarn, dessen Ressourcen, insbesondere nachdem die Ukraine den deutschen Besatzern verloren gegangen war, für das Reich stark an Bedeutung gewon-nen hatten. Die Mobilisierung der ungarischen Reserven, so die zentrale These von Gerlach/Aly, habe aber nicht im Widerspruch zur Mordpolitik gegenüber den ungarischen Juden gestanden, sondern sei mit dieser aufs engste verklammert gewesen. Dabei beziehen sich die Autoren nicht auf die gescheiterten Verhandlungen über den Austausch von der Deportation bedrohter Juden gegen die Lieferung von Lastwagen zwischen Adolf Eich-mann und dem führenden Vertreter der ungarischen Zionisten Rezsö Kasztner, die sie nur ganz am Rande behandeln. Ihr Augenmerk richtet sich viel-mehr auf die Expropriation der ungarischen Juden zugunsten des ungarischen Staates und die Mobilisierung jüdischer Arbeitskräfte.

Die Aneignung erheblicher Vermögenswerte sei letztlich dem deutschen Reich zugute gekommen, da auf diesem Wege die hohen Besatzungslasten, die dieses Ungarn aufgebürdet habe, hätten kompensiert werden können. Auch habe man in Ungarn mit der Arisierung nicht nur Neidkomplexe be-friedigt, sondern zumindest Ansätze einer arisierungsfinanzierten Sozialpolitik verfolgt. Die Deportierten seien keineswegs alle allein um der Vernichtung willen ermordet worden, vielmehr seien in Auschwitz die Arbeitsunfähigen selektiert, die anderen aber vor allem für die deutsche Rüstungspro-duktion verwendet worden. Insbesondere für das Jägerprogramm, den geplanten Bau unterirdischer Fabriken zur Herstellung von Abfangflugzeugen, mit denen die längst verlorengegangene Lufthoheit zurückgewonnen werden sollte, wurden sie eingesetzt. Hitler hatte angesichts der Kriegsnotwendig-keit sogar den Grundsatz aufgegeben, das Reich „judenfrei“ zu halten.

Die Darstellung der kriegsökonomischen Zusammenhänge, der vor allem die erste Hälfte des Buches gewidmet ist, wirkt allerdings auf erheblichen Strecken des Buches weitschweifig und umständlich. Auch die unzähligen Vor- und Rückverweise zeigen, daß das Werk nicht wirklich durchgearbeitet ist. Wichtig bleibt dabei aber die Herausarbeitung der Tatsache, daß die antisemitische Politik sich für den Staat und die Erwerber kostengünstig reprivatisierter Vermögenswerte auszahlte und zugleich eine Komplizenschaft begründete, die einiges zur Erklärung der weitgehenden Reibungslosigkeit der Deportationen in die Vernichtung beiträgt.

Jedoch geben die Autoren keine klare Antwort auf den Status der von ihnen untersuchten Bedingungen für den Holocaust in Ungarn. Bezeichnend hierfür ist folgende Passage aus den zusammenfassenden Überlegungen:

„Es handelte sich nicht um eine Vernichtung um der Vernichtung willen. Der Massenmord war verbunden mit der Neuverteilung von Ressourcen - von Finanzmitteln, von Arbeitskräften für Rüstungsprojekte, von Ernährungsreserven, von militärisch-kriegswirtschaftlichem Potential. Der Massenmord war auch verbunden mit der Abwälzung sozialer Lasten, die der Krieg mit sich brachte. [...] Alle diese Ef-fekte sollten zu Lasten der Juden erreicht werden, unlösbar verknüpft mit den seit langem populären antisemitischen Diskursen.“ (S. 415).

Welcher Art aber waren die hier angesprochenen „Verbindungen“ und „Verknüpfungen“? Welche Ursache erzeugte welche Wirkung? Welche Motive waren für welche Akteure primär, welche sekundär? Gerlach und Aly scheuen hier vor klaren Antworten zurück. Über die „antisemitischen Dis-kurse“ erfährt man von ihnen so gut wie nichts, obwohl doch gerade der ungarische Fall dazu herausfordert, unterschiedliche Varianten antisemitischen Denkens – von Horthys Traditionalismus über den viel radikaleren Antisemitismus der Pfeilkreuzler, der bereits mörderische Formen annahm, bis zum Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten – zu untersu-chen. „Das letzte Kapitel“ bleibt unbefriedigend, weil die These, der Holocaust in Ungarn sei keine Vernichtung um der Vernichtung willen, nur dann belegt – oder auch falsifiziert – werden könnte, wenn die Motive für den Massenmord vollständig untersucht und zueinander in Beziehung gesetzt würden. Dies geschieht hier leider nicht.

Um so mehr Zweifel weckt Götz Alys unlängst in seinem Aufsatz „Hitlers Volksstaat“[2] unternommener Versuch, die Analyse der ungarischen Konstellation zu generalisieren und daran weitreichende Aussagen über die Struktur des NS-Regimes zu knüpfen. Der NS-Staat habe seinen angeblich egalitären sozialpolitischen Anspruch verwirklicht, indem er die Kriegslasten den besetzten Staaten und nicht der eigenen Bevölkerung auferlegt habe; die dadurch bedingte Inflationsgefahr in den besetzten Ländern sei mittels der Arisierung des jüdischen Vermögens zu Staatsgunsten aufgehoben worden, lautet die These. Das mag rein rechnerisch in Ungarn mit seiner großen und relativ wohlhabenden jüdischen Bevölkerung funktioniert haben. Theoretisch hätte die Liquidierung des jüdischen Vermögens gereicht, um die Besatzungslasten für mehrere Jahre zu decken. In Serbien aber – das rechnet Aly selbst vor [3] – reichte es nur für ein halbes Jahr. Man kann also daran zweifeln, daß Alys Rechnung aufgeht, und noch um einiges mehr an der Einordnung der Arisierung „in die Kette der Eigentumsrevolutionen des 20. Jahrhunderts“ und an Alys Entschluß „die Ermordung der europäischen Juden als Teil einer Politik zu begreifen, die ihre Kraft aus der Gleichheitsidee bezog.“ [4]

Erhebliche Vorbehalte, um wieder zum eigentlichen Besprechungsgegenstand zurückzukehren, erweckt auch Gerlachs und Alys These, die Mobilisierung der ungarischen Juden zur Zwangsarbeit sei Ausdruck einer wie auch immer in den Genozid integrierten ökonomischen Ratio. Die Autoren, die die grausamen Deportationen und die bedrückenden Verhältnisse in den Lagern unter Heranziehung einer Fülle von Überlebendenberichten ein-drucksvoll beschreiben, thematisieren die Irrationalität des Geschehens ja sogar selbst, wenn sie etwa feststellen: „Gerade von der Unterbringungssituation in Auschwitz oder den enormen Schwierigkeiten, sie in kurzer Zeit in andere Lager abzutransportieren, hing die Zahl der von der sofortigen Ermordung ausgenommenen Zwangsarbeiter unter anderem ab.“ (S. 293) Eine kriegswirtschaftliche Rationalität ist hier schwerlich zu erkennen. Ger-lach und Aly fallen aber hinter ihren eigenen Erkenntnisstand zurück, wenn sie an späterer Stelle, ihre Ausgangsthese erneut aufgreifend, schreiben: „Wie gezeigt, trieb die deutsche Politik der ‚Selektionen’ in Auschwitz vielmehr erbarmungslos alle diejenigen in den Tod, die als nicht effektiv auszubeuten galten.“ (S. 413) Abgesehen von der verfehlten Ausdrucksweise – es wurden nicht Menschen in den Tod getrieben, sondern systematisch ermordet – waren die Selektionskriterien eben keineswegs so ökonomistisch-rational wie hier angenommen. Wenn das Chaos in Auschwitz zu groß wurde, wurden „wie gezeigt“ eben auch potentielle Arbeitskräfte er-mordet. Und die Widersprüche setzten sich auch im Arbeitseinsatz fort, der durch immense Sterblichkeitsraten gekennzeichnet war. Im wahrsten Sinn des Wortes mörderische Arbeits- und Lebensbedingungen und die Gewalttätigkeit der Aufseher waren dafür verantwortlich; bei Aly und Gerlach heißt das: „der immer noch wirksame Drang zur antisemitischen Gewalt bei SS-Aufsehern und Lagerführern, denen die Anpassung an die Produktionslogik schwerfiel“. Hier wird indirekt eine Zielrichtung weg vom Antisemitismus hin zu einer Produktionslogik postuliert, die es so nie gegeben hat. Eine sehr viel präzisere Analyse der Situation findet sich in der Studie von Edith Raim über die Dachauer Außenlagerkomplexe Kaufering und Mühldorf, wo als größte Häftlingsgruppe Tausende ungarischer Juden unterirdische Fertigungshallen für das Jägerprogramm bauten. Sie schreibt:

„Der Terror war und blieb ein systemimmanentes Element der Konzentrationslager. Als das irrationale System des Terrors und der Vernichtung der Menschen dem rationalen Kriterium des Arbeitseinsatzes angepaßt werden sollte, endete die-ses Vorhaben in einem Desaster, da Modifikationen im KZ-System nur sehr begrenzt möglich waren. Der Terror, der in den Lagern aufrechterhalten werden mußte, das SS-Personal, das vielfach aus den Vernichtungslagern stammte, die pervertierte und dehumanisierte Werteskala, die Verbrechen belohnte und Mensch-lichkeit bestrafte, ließen keine Rationalisierung des KZ-Systems und damit keinen effizienten Arbeitseinsatz zu. Das Dritte Reich fand auch im letzten Kriegsjahr aus der Irrationalität des mordenden Rassenhasses nicht mehr heraus.“ [5]

(Jürgen Zarusky)


[1] Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspoli-tik im Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1999.
[2] Götz, Aly: Hitlers Volksstaat, in ders.: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen. Frankfurt a. M. 2003.
[3] Ebenda, S. 240.
[4] Ebenda, S. 243.
[5] Raim, Edith: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungs-bauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45. Landsberg a. Lech 1992, S.293.