Verwandte Gegner? Der Stalinismus und derNationalsozialismus im Spiegel des Romans von Vasilij Grossman Leben und Schicksal (Symposium)

Jürgen Zarusky

„Freiheitliche Erinnerung“.
Vasilij Grossman und die europäische Erinnerung an Totalitarismus und Zweiten Weltkrieg


Zerklüftetes Gedächtnis

Der Teil Europas, der die Erfahrung von nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft gemacht hat, also Mittel- und Osteuropa, ist heute durch eine tief zerklüftete Erinnerungslandschaft geprägt. Im Prozeß des „Wiederfindens der Erinnerung“, der „Rückkehr der Geschichte“[1] und der Rekonstruktion nationaler Identitäten sind überall in Ost- und Mitteleuropa geschichtspolitische Fronten entstanden, die ihren Ursprung vor allem im Zweiten Weltkrieg und seinen Deutungen haben. Nicht selten prallen die „Mythen der Nationen“ hart aufeinander,[2] am härtesten derzeit wohl zwischen den Ländern des Baltikums und Rußland. Im Jahr 2005, als man sich in Moskau anschickte, den 60. Jahrestag des Kriegsendes und den Sieg der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg mit hochrangiger internationaler Beteiligung festlich zu begehen und erstmals sogar der deutsche Bundeskanzler dazu eingeladen war, konterkarierten die Präsidenten der baltischen Staaten die staatliche russische Geschichtspolitik: Der litauische und der estnische Präsident lehnten die Einladung zu den Feierlichkeiten am 9. Mai ab, die lettische Präsidentin Vike-Freiberga sagte zu, nutzte aber jede Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß man im Baltikum den Sieg der Roten Armee, der dort neuerliche Besetzung und Massendeportationen bedeutet habe, nicht als Befreiung verstehen könne. In diesem Zusammenhang forderten die baltischen Staaten von Rußland eine entschiedene Verurteilung des Hitler-Stalin-Pakts und knüpften damit geschichtspolitisch an die Ereignisse von 1989/90 an, als die Erinnerung an den 50 Jahre zuvor abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt und das offizielle sowjetische Eingeständnis der jahrzehntelang bestrittenen Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt den baltischen Unabhängig­keits­bestrebungen von der UdSSR starken legitimatorischen Auftrieb gab und zu deren schließlichem Erfolg erheblich beigetragen hat.[3] Im „Westen“ stieß Vike-Freibergas unerschrockenes Auftreten nicht nur bei Konservativen auf Sympathie. Im Dezember 2005 erhielt sie den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, der von der Hansestadt Bremen und der GRÜNEN-nahen Heinrich-Böll-Stiftung getragen und von einer unabhängigen, eher linksliberal orientierten Jury vergeben wird.[4] Über einige zweifelhafte Äußerungen der Präsidentin, wie ihre verächtlichen Bemerkungen über sowjetische Kriegsveteranen und die historisch mehr als fragwürdige Aussage, für die baltischen Staaten habe der Zweite Weltkrieg erst 1990, mit der wiedergewonnenen Unabhängigkeit, geendet, sah man dabei hinweg.[5] In Rußland indes rief das lettische Auftreten blanken Zorn hervor, bis hin zu Übergriffen linksextremer und nationalistischer Jugendgruppen gegen die lettische Botschaft. Die baltischen Staaten sahen sich mit dem Vorwurf der Geschichtsklitterung und der Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen konfrontiert. Von russischer Seite wurde die verbreitete Kollaboration mit den NS-Besatzern, insbesondere in den baltischen Einheiten der Waffen-SS hervorgehoben.[6]

Die geschichtspolitische Auseinandersetzung hat sich auch in Buchpublikationen niedergeschlagen. Bei der internationalen Feier zur Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz wurde Präsident Putin eine offiziöse Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert in russischer Sprache überreicht.[7] Die jüngst in Rußland erschienenen Dokumentationen über die nationalsozialistische Herrschaft in Litauen und Lettland[8] darf man wohl als Antwort auf die von offiziöser russischer Seite stark, wenn auch nicht stets mit überzeugenden Argumenten kritisierte „Geschichte Lettlands“ betrachten. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, daß ein geschichtspolitischer Grundsatzartikel, der nach den Feiern vom Mai 2005 in der Zeitschrift des russischen Außenministeriums erschien, den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt als Chance des Aufschubs eines deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, jedoch mit keiner Silbe das geheime Zusatzprotokoll erwähnt, und damit traditionelle sowjetische Deutungsmuster reproduziert.[9] Daß diese in den letzten Jahren immer stärker die Wahrnehmung des Kriegsgeschehens bestimmen, hat die italienische, in Rußland arbeitende Historikern Maria Ferretti unlängst beklagt und darauf verwiesen, daß diese Stereotypen das starke freiheitliche Element ignorierten und verdeckten, durch das der Kriegseinsatz vieler Frontsoldaten und Partisanen geprägt gewesen sei. Diese nationalistisch geprägte, „unversöhnliche Erinnerung“ schaffe überdies neuerlich eine Kluft zwischen Rußland und dem Westen.[10]

Der baltisch-russische Erinnerungskonflikt ist Teil einer gesamteuropäischen Konfliktlage und kein osteuropäisches Spezialproblem. Das zeigte sich schon im vorhinein, als Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, während der Eröffnungsrede der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete zur Leipziger Buchmesse 2004 empört den Saal verließ, weil die Rednerin erklärt hatte, „daß beide totalitäre Regime, der Nationalsozialismus und der Kommunismus, gleichermaßen verbrecherisch waren“. Korn kritisierte, man könne der Sowjetunion, allen von ihr verübten Verbrechen zum Trotz, nicht den gleichen rassistischen Ausrottungswillen gegenüber ‚Untermenschen’ und ‚lebensunwertem Leben’ zuschreiben, wie ihn der deutsche Nationalsozialismus auf einzigartige Weise gezeigt habe. „Es hat nichts Analoges zu dem staatlich organisierten Massenmord, zum eliminatorischen Antisemitismus, zur fabrikmäßigen Ermordung von Millionen Menschen, zum Vernichtungs- und ‚Lebensraumkrieg’ und zum Willen der Versklavung und Ausbeutung ganzer Völker gegeben wie unter dem Nationalsozialismus.“ Überdies habe Kalniete die Verbrechen lettischer Kollaborateure beim Holocaust geflissentlich verschwiegen.[11]

Man könnte die Konfliktlinie und ihre Verzweigungen anhand vieler weiterer Beispiele noch genauer nachzeichnen, etwa anhand des russisch-polnischen Streits um die strafrechtliche Verfolgung der Exekutoren polnischer Offiziere in Katyn und anderen Mordstätten, der ungarischen Aufarbeitung doppelter Diktaturerfahrung, wie sie sich – nicht sehr überzeugend – im „Terrorhaza“-Museum manifestiert, oder der deutschen Debatten um die Frage, ob der 8. Mai als Niederlage oder Befreiung zu verstehen sei, in der die Gegner des Begriffs „Befreiung“ auf sowjetischen Besatzungsterror und die Etablierung der SED-Diktatur verweisen.[12] Im Kern geht es darum, daß das massenmörderische und kriegslüsterne NS-Regime eben nicht nur von den demokratisch verfaßten westlichen Nationen, sondern auch und vor allem von den Truppen der stalinistischen Sowjetunion niedergeworfen wurde, die in diesem Kampf nicht nur von ihren totalitären Herrschaftspraktiken keinerlei Abstand nahm, sondern sich im Zuge ihres siegreichen Vormarsches auch fast ganz Ost- und Mittelosteuropa unterwarf. Die widerspruchsvolle Dialektik von Befreiung und Unterdrückung in ihren unterschiedlichen Manifestationen zu verstehen, ist eine der wichtigsten intellektuellen Herausforderungen für das neue, nach 1989/90 entstandene Europa, das, so Tony Judt, „der Vergangenheit immer verpflichtet“ bleibt,[13] gegenwärtig aber keineswegs über ein gemeinsames Verständnis dieser Vergangenheit verfügt. 

Leben und Schicksal Vasilij Grossmans

Geht man daran, das geistige Arsenal Europas nach Beiträgen zu durchsuchen, die bei der Bewältigung dieser Aufgabe hilfreich sein können, sollte man Vasilij Grossmans Roman Leben und Schicksal nicht übersehen. Diese Gefahr besteht, weil der Roman in der Sowjetunion, wo er entstanden ist, fast drei Jahrzehnte lang unterdrückt wurde und in Deutschland seit vielen Jahren nicht nur aus den Verlagssortimenten und Buchläden, sondern auch aus der politisch-historischen Debatte verschwunden ist. Grossmans hundertsten Geburtstag am 12. Dezember 2005 haben die Feuilletons hierzulande mit völligem Stillschweigen übergangen, ein höchst eigentümliches Schweigen gegenüber einem international geachteten Schriftsteller,[14] dessen Werk und persönliches Schicksal durch den deutschen Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion entscheidend geprägt worden ist und dessen Roman Leben und Schicksal dieses Geschehen mit ungewöhnlicher Intensität durchdringt. Der Roman ist ein wichtiger Beitrag zur antitotalitären Literatur, der in einer Reihe mit den Werken von Orwell, Koestler oder des am gleichen Tag wie Grossman geborenen Manès Sperber steht, aber darüber hinaus auch ein Dokument stillen antitotalitären Widerstands. Er zeichnet sich überdies durch eine eigenständige historische Konzeption aus, die auch für die historische Forschung anregend ist und einen Beitrag zur Bewältigung der oben skizzierten Erinnerungskonflikte leisten kann.[15]

Der Weg, der den Autor zu diesem Werk führte, war schmerzhaft und endete für ihn persönlich unglücklich. Grossman, am 12. Dezember 1905 im ukrainischen Berdičev in einer Intellektuellenfamilie geboren – die Mutter war Französischlehrerin, der Vater Chemiker – wurde nach ersten beruflichen Erfahrungen als Industriechemiker Schriftsteller, gefördert durch Maksim Gor’kij, der durch die Erzählung „In der Stadt Berdičev“ auf Grossman aufmerksam geworden war. Sie wurde 1966/67 von Aleksandr Askol’dov unter dem Titel „Die Kommissarin“ in einer Weise verfilmt, die dem späteren Grossman kongenial war; eben deshalb fiel auch dieser Film der Zensur anheim und kam erst mit über zwanzigjähriger Verspätung zur Zeit der Perestrojka in die Kinos.[16] Grossman schien zunächst den typischen Weg eines Schriftstellers der Stalinära zu gehen. Sein Roman Stepan Kol’čugin schildert die Entwicklung eines revolutionären Arbeiters im Stil des sozialistischen Realismus. Politisch verhielt er sich konform: Im Juni 1937 unterzeichnete er sogar einen Brief prominenter Schriftsteller (unter ihnen auch Boris Pasternak, Michail Šolochov, Konstantin Paustovskij, Konstantin Simonov), in dem die Todesstrafe für die Angehörigen der „trotzkistisch-bucharinistischen Verschwörung“ gefordert wurde.[17] Weniger als acht Monate später jedoch, als seine zweite Frau, Ol’ga Guber, in die Mühlen des Terrors geriet, setzte er sich couragiert und letztlich erfolgreich für sie ein. Er beteuerte in Briefen an NKVD-Chef Ežov, sie habe mit ihrem ersten Ehemann, dem verhafteten Schriftsteller Fedor Guber, nichts mehr zu tun und sei bereits seit längerem mit ihm, Grossman, verheiratet. Auch um die Kinder der Gubers kümmerte er sich.[18]

Den Beginn des Krieges mit dem deutschen Aggressor begriff Grossman zunächst auch als Chance einer Befreiung vom stalinistischen Alpdruck, die eine Katharsis des Sowjetsystems mit sich bringen werde. Sein Freund Semen Lipkin erinnert sich: „Grossman zweifelte nicht daran, daß ein Krieg zwischen Internationalismus und Faschismus stattfand. Dieser Krieg würde, seiner Meinung nach, den ganzen stalin’schen Dreck vom Antlitz Rußlands abwaschen. Das heilige Blut dieses Krieges würde uns vom Blut der unschuldigen Opfer der Entkulakisierung und dem 1937 vergossenen Blut reinigen.“ [19] Doch der schnelle Vormarsch der deutschen Truppen führte zu einer tragischen Wende in Grossmans Leben: In Berdičev, das schon am 7. Juli besetzt worden war, lebte noch immer seine Mutter Ekaterina Savel’evna; Grossman hatte es nicht geschafft, sie rechtzeitig vor Ankunft der Deutschen zu sich nach Moskau zu holen. Bald ahnte er, daß sie dem nazistischen Terror zum Opfer gefallen war, und als er 1944 mit der Roten Armee in die Ukraine vorrückte, verschaffte er sich Gewißheit: Sie gehörte zu den Opfern des ersten großen Massakers an den Berdičever Juden, das am 19. September 1941, auf Befehl des damaligen Höheren SS- und Polizeiführers Rußland Süd, Friedrich Jeckeln, erfolgt war.[20] Grossman hat es, schonungslos gegen sich selbst, im von ihm zusammen mit Il’ja Ėrenburg bearbeiteten Schwarzbuch beschrieben.[21]

Grossman meldete sich schon in den ersten Kriegstagen freiwillig. Damit begann  seine Karriere als Kriegskorrespondent, denn in dieser Funktion, so glaubten die Armeebehörden – sehr zu Recht, wie sich zeigen sollte – könne er mehr nützen als mit einer Flinte in der Hand.[22] Grossman, der keine Gefahr scheute und mit der Feder umzugehen verstand, schrieb für die Armeezeitung Krasnaja  Zvezda [Roter Stern] und wurde einer der populärsten Kriegsberichterstatter der Sowjetunion. Er machte praktisch den ganzen Krieg in dieser Funktion mit, von den düsteren Tagen der überstürzten Rückzüge, dem Aufhalten des deutschen Angriffs vor Moskau, den grausam-heroischen Kämpfe von Stalingrad, wo er kurz vor dem Sieg der Roten Armee von Konstantin Simonov als Berichterstatter abgelöst wurde, über die Vertreibung der Besatzer aus der Ukraine – einer „Ukraine ohne Juden“, wie Grossman Ende 1943 in dem Organ des Jüdischen Antifaschistischen Komitees Einikeit berichtete – und die Befreiung der Reste der nationalsozialistischen Vernichtungslager in Polen – Grossman berichtete in Treblinskij ad [Die Hölle von Treblinka] als einer der ersten über die Mordmaschinen[23] – bis zum siegreichen Einmarsch in Berlin.[24]

Beim Versuch, die Erfahrungen des Krieges dokumentarisch und literarisch zu verarbeiten, stieß Grossman nach Kriegsende auf vielfältige Widerstände. Das Schwarzbuch über den Holocaust in der besetzten Sowjetunion, das er gemeinsam mit Il’ja Ėrenburg im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees redigiert hatte, durfte nicht erscheinen.[25] Das JAFK wurde aufgelöst, sein Leiter Michoėls 1948 ermordet, 12 weitere leitende Mitglieder in einem Geheimprozeß 1952 zum Tode verurteilt.[26] Neben seiner journalistisch-dokumentarischen Tätigkeit hatte Grossman sich schon frühzeitig mit dem Gedanken getragen, seine Kriegserfahrungen und -beoba­chtungen in einem großen Roman zu verarbeiten. Er hatte schnell erkannt, daß die Schlacht von Stalingrad ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung war und begann mit einer Romandilogie, die um dieses Zentralereignis herum aufgebaut war. Obwohl er im realistischen Genre blieb und politisch delikate Themen wie die Judenverfolgung und die mangelnde Wachsamkeit der sowjetischen Führung gegenüber dem deutschen Aggressor nur in recht versteckten Andeutungen behandelte,[27] war es nicht einfach, die Publikation des ersten Teils dieser Dilogie, Za pravoe delo [Für die gerechte Sache], in der literarischen Zeitschrift Novyj mir zu erreichen. Und nach anfänglich positiven Kritiken geriet Grossman im Februar 1953 infolge einer denunziatorischen Kritik des stalinistischen Literaten Bubennov im Parteiorgan Pravda unter starken Druck. Bubennov hatte Grossman unter anderem vorgeworfen, es sei ihm kein einziger wirklich starker, packender Charakter gelungen, der typisch für die Helden der Schlacht von Stalingrad sei. Auch das Heldentum der Arbeiter von Stalingrad habe er nicht gezeigt. Bubennov rügte, daß statt dessen dem Physiker Štrum eine so große Rolle eingeräumt wurde, der doch gar nichts mit dem Krieg zu tun habe. (Štrum ist aus Moskau evakuiert und lebt mit seiner Familie in Kazan’). Das war, wie Simon Markish festgestellt hat, zweifellos eine antisemitische Anspielung,[28] die das schon aus dem Deutschland des Ersten Weltkriegs unrühmlich bekannte, verleumderische Motiv des „jüdischen Drückebergers“ bemühte.[29] Die wahren Helden, die starken russischen, sowjetischen Menschen habe Grossman im Schatten gelassen. Überdies folge er falschen, idealistischen, reaktionären, überholten, philosophischen Konzeptionen.[30] Vor dem Hintergrund der Pogromstimmung, die mit der TASS-Meldung vom 13. Januar 1953 über die angebliche „Ärzteverschwörung“ heraufbeschworen worden war, war die Situation für Grossman durchaus bedrohlich, und er fand sich in dieser Situation bereit, einen von prominenten sowjetischen Juden initiierten Brief zu unterzeichnen, in dem diese sich von den sogenannten jüdischen „Mörderärzten“ im Kreml distanzierten.[31] Der Tod Stalins am 5. März brachte die entscheidende Wende, einige Monate später war Grossman voll rehabilitiert, sein Roman wurde anerkannt und erschien in zahlreichen Ausgaben, darunter 1958 unter dem Titel Wende an der Wolga auch in der DDR.

Während der Kampagne gegen ihn hatte Grossman auch seinen politisch motivierten literarischen Kritikern ein verbales Zugeständnis gemacht. In einem Brief  an das Präsidium des Schriftstellerverbandes vom 28. Februar 1953 erklärte er, die Kritik an Za pravoe delo sei teilweise berechtigt, er könne sich aber von seinem Werk nicht lossagen. Indes gelobte er Besserung: Er wolle am zweiten Buch des Romans arbeiten, das unmittelbar der Schlacht bei Stalingrad gewidmet sei und sich dabei sorgfältig um ein marxistisches Verständnis der Ereignisse bemühen.[32] Doch das Werk, das er im Herbst 1960 bei der Literaturzeitschrift Znamja einreichte, sprengte selbst die im Chruščevschen Tauwetter erheblich erweiterten Toleranzgrenzen der sowjetischen Literaturpolitik und erschreckte die Redakteure der Zeitschrift so sehr, daß sie eilfertigst die „zuständigen Stellen“ informierten. Am 14. Februar um die Mittagszeit tauchten ein Oberstleutnant und zwei Majore des KGB in der Wohnung Grossmans auf und beschlagnahmten sämtliche Manuskripte des Romans. Anschließend begaben sie sich gemeinsam mit Grossman zu den Sekretärinnen, die das Manuskript getippt hatten, und zu verschiedenen anderen Stellen, wo Kopien deponiert waren, die alle eingesammelt wurden.[33]

Grossmans verzweifelte Versuche, seinen „verhafteten“ Roman wieder freizubekommen, endeten erfolglos. Zwar wurde er infolge eines an Parteichef Nikita Chruščev gerichteten Appells[34] im Juli 1962 von dem für Kultur zuständigen ZK-Sekretär Suslov empfangen, doch dieser zeigte keinerlei Entgegenkommen. Auf der Grundlage zweier ausführlicher Rezensionen[35] war er zu dem Schluß gekommen, daß die Publikation für das sowjetische Volk und den internationalen Kommunismus schädlich sei. Es sei unmöglich, das Buch zu drucken, Partei und Volk würden das nicht verzeihen. Man werde es aber auch nicht vernichten. „Möge es liegen.“[36] Das Manuskript wieder an den Autor auszuhändigen kam für Suslov nicht in Frage. „Vielleicht wird es in zwei- bis dreihundert Jahren publiziert.“[37]

„Sie haben mich im Torweg erdrosselt“, hatte Grossman zu einem Freund nach der Beschlagnahme seines Romans gesagt,[38] und gewiß hat der schwere Schlag, den er durch die Unterdrückung seines Werkes erlitten hatte, das ihm, wie er Chruščev geschrieben hatte, so lieb war  „wie einem Vater seine eigenen Kinder“, zu seinem frühen Tod beigetragen. Grossman erkrankte an Magenkrebs, dem er am 14. September 1964 in Moskau erlag.

Doch sein Roman existierte keineswegs nur in den Asservatenkammern des KGB. Vorsorglich hatte er zwei Exemplare an Freunde übergeben, und sein kooperatives Verhalten bei der Beschlagnahmeaktion darf wohl als List gedeutet werden, durch die diese Freunde und die bei ihnen befindlichen Abschriften geschützt werden sollten. Zu einem von ihnen, Semen Lipkin, hatte Grossman noch auf dem Totenbett gesagt: „Ich wünsche mir sehr, daß mein Roman publiziert wird – und sei es auch nur im Ausland.“[39] Zehn Jahre nach dem Tod des Freundes ging Lipkin daran, diesen Wunsch zu realisieren. Mit Hilfe des Satirikers Vladimir Vojnovič, der über Auslandskontakte verfügte, sowie mit der Unterstützung von Andrej Sacharov und seiner Frau Elena Bonner, die bei der Mikroverfilmung des Manuskripts halfen, sowie mittels einer mutigen österreichischen Slawistin, die half, das Manuskript außer Landes zu bringen, wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, daß Leben und Schicksal zuerst in russischer Sprache 1980 im Lausanner Verlag L’Age d’Homme und dann in einer Reihe von Übersetzungen erscheinen konnte, darunter auf deutsch im Verlag Albrecht Knaus im Jahre 1984.

„Demokratischer Realismus“

Was fanden die sowjetischen Kulturfunktionäre an Grossmans Roman Leben und Schicksal so bedrohlich? Darauf eine kurze und einfache Antwort zu geben, ist schwer. Zwar bemängelte Suslov unter anderem, daß Grossman direkte Vergleiche zwischen dem NS-Regime und dem sowjetischen Stalinismus angestellt habe, was er auf eine Überschätzung der „dunklen Seiten der Periode des Personenkults“ zurückführte.[40] Aber das allein, obwohl es in den Augen sowjetischer Amtsträger eine schwere Verfehlung darstellte, war es wohl nicht. Ihnen „paßte die ganze Richtung nicht“, der Geist der Freiheit, den Grossmans Roman atmete, ebenso wie sein präziser Realismus.

Dieser Realismus ist eine zentrale Voraussetzung für die enge Verbindung von Grossmans literarischer und seiner journalistisch-dokumenta­rischen Arbeit. Grossman war kein literarisch-stilistischer Neuerer, aber er war auch kein Exponent des sozialistischen Realismus, der unter Stalins Herrschaft zur „Hauptmethode der sowjetischen Schönen Literatur und Literaturkritik“ erhoben wurde.[41] Grossman selbst macht das in Leben und Schicksal hinreichend klar. In Kazan’, wohin der Hauptheld Štrum mit seiner Familie evakuiert worden ist, entwickelt sich in einem von ihm frequentierten Gesprächszirkel eine literarische Debatte. Wortführer ist der regimekritische Historiker Madjarow. Er vertritt die Ansicht, die Anerkennung, die Anton Čechov in der stalinistischen Sowjetunion genieße, beruhe auf einem Mißverständnis und redet sich dabei in Eifer:

 „Zwischen ihm und der Gegenwart – da liegt eine riesige Kluft. Denn Tschechow hatte sich der in Rußland nie verwirklichten Demokratie angenommen. Der Weg Tschechows ist der Weg der russischen Freiheit. Wir aber haben einen anderen Weg eingeschlagen. […] Er sagte, wie keiner vor ihm, nicht einmal Tolstoj: Wir alle sind zuerst einmal Menschen, versteht ihr, Menschen, Menschen, Menschen! Hat es so gesagt, wie keiner vor ihm im russischen Land. Er hat das Wichtigste gesagt: daß Menschen – Menschen sind, und erst danach Erzbischöfe, Russen, Ladenbesitzer, Tataren, Arbeiter. […] Vom Protopopen Awwakum bis zu Lenin waren unsere Menschlichkeit und unsere Freiheit parteilich, fanatisch – unbarmherzig wird der Mensch einer abstrakten Menschlichkeit geopfert. Selbst Tolstoj mit seiner Predigt des gewaltlosen Widerstands, er ist unduldsam und geht dabei, was noch wesentlicher ist, nicht vom Menschen, sondern von Gott aus. […] Tschechow sagte: Möge Gott uns ein wenig Platz machen, mögen die sogenannten fortschrittlichen Ideen ein wenig zur Seite treten, beginnen wir mit dem Menschen, […] beginnen wir damit, daß wir den Menschen achten, bedauern, lieben wollen, anders geht es ganz und gar nicht. Genau das heißt – Demokratie, die bislang nicht verwirklichte Demokratie des russischen Volkes.“[42]

In diesen Äußerungen seiner Romanfigur Madjarow darf man wohl Grossmans ureigenes literarisch-politisches Programm sehen. Obwohl sich seine Stalingrad-Dilogie unzweifelhaft an Tolstojs „Krieg und Frieden“ orientiert, ist Čechov sein eigentlicher literarischer Gewährsmann.[43] Zu Maksim Gor’kij aber, der als Galionsfigur des sozialistischen Realismus fungierte und ihn einst gefördert hatte, zieht Grossman einen Trennungsstrich, der deutlicher nicht sein könnte: Gor’kij taucht nicht in einer literarischen Debatte, sondern im Zimmer eines stalinistischen Untersuchungsrichters auf, welcher Kriegskommissar Krymov, einen revolutionären Veteranen, dazu bewegen will, sich als Spion und Diversant zu bekennen. Er läßt ihn von zwei Schlägern verprügeln:

„Sie arbeiteten ohne Zorn, ohne Eifer. Sie schlugen nicht stark, ohne Schwung, aber ihre Schläge waren entsetzlich, wie zuweilen ein ruhig ausgesprochenes Wort entsetzlich sein kann. Krymow lief Blut aus dem Mund, obwohl sie ihm nicht ein einziges Mal in die Zähne geschlagen hatten, das Blut kam nicht aus der Nase, nicht aus dem Kiefer, nicht aus der angebissenen Zunge wie in Achtuba. Das Blut kam aus der Tiefe der Lunge. Er wußte nicht mehr, wo er war, er wußte nicht mehr was mit ihm geschah… Über ihm tauchte wieder das Gesicht des Untersuchungsrichters auf, er zeigte mit dem Finger auf ein Bild von Gorkij, das über dem Tisch hing, und er fragte: ‚Was hat der große proletarische Schriftsteller Maxim Gorkij gesagt?’ Und wie ein Lehrer gab er die Antwort: ‚Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet.’“[44]

Jüdische Identität und antitotalitäres Gedächtnis

In Leben und Schicksal nahm Grossman keinerlei Rücksicht auf sowjetische Tabus. Aus dem bereits zitierten Brief Grossmans an Chruščev geht hervor, daß er mit der Arbeit an Leben und Schicksal bereits zu Lebzeiten Stalins begonnen hat, und das heißt: inmitten der sich seit Ende der vierziger Jahre im sowjetischen Machtbereich entwickelnden antisemitischen Atmosphäre. Die Entscheidung, diesen Roman zu schreiben, war somit ein Akt stillen antistalinistischen Widerstands, zumal der Tod Stalins keinesfalls absehbar war.[45] Diese Entscheidung ist aufs engste mit dem Schicksal von Grossmans Mutter und seiner Beziehung zu ihr verbunden.[46] Ihr hat Grossman den Roman gewidmet. Nach seinem Tod fand seine Schwiegertochter in seiner Schreibtischschublade zwei Briefe, die an die tote Mutter gerichtet waren. Dabei lag ein kleines Foto, das eine Grube voller weiblicher Leichen zeigte[47] – eine jener makabren Aufnahmen von den Schauplätzen des Judenmords, die die Beteiligten trotz offiziellen Verbots häufig anfertigten und die Grossman offenkundig einem gefallenen deutschen Soldaten oder SS-Mann abgenommen hat.

     „Liebe Mama, es sind jetzt zwanzig Jahre seit Deinem Tod vergangen. Ich liebe Dich; ich denke jeden Tag meines Lebens an Dich, und der Schmerz darüber, Dich verloren zu haben, hat mich in den vergangenen zwanzig Jahren stets begleitet“, beginnt der zweite der Briefe, der am 15. September 1961, dem 20. Todestag von Ekaterina Savel’evna Grossman verfaßt wurde. Weiter heißt es darin: „Ich bin Du, liebe Mama, und so lange ich lebe, wirst auch Du leben. Wenn ich sterbe, wirst Du in diesem Buch weiterleben, das ich Dir gewidmet habe und dessen Schicksal eng mit Deinem Schicksal verbunden ist.“[48]

     Das Schicksal der Mutter war das einer Jüdin, die in der Shoah ermordet wurde. Mit deren terminologischer Einebnung zur Verfolgung „friedlicher sowjetischer Bürger“ hätte Grossman sich nicht arrangieren können, ohne seine Mutter zu verraten. Und er arrangierte sich nicht damit, auch weil er sehr genau beobachtet und durch seine Arbeit am Schwarzbuch erfahren hatte, wie nicht wenige „friedliche sowjetische Bürger“ im besetzten Gebiet sich mit den Judenmördern arrangiert und die rechtlose Stellung ihrer einstigen jüdischen Mitbürger skrupellos ausgenutzt hatten. In dem letzten Brief der Mutter des jüdischen Physikers Štrum – der unschwer als Grossmans alter ego im Roman zu erkennen ist –, den sie aus dem Ghetto an ihren Sohn richtet, wird solches Verhalten ebenso klar geschildert, wie die sel­tener auftretende zwischenmenschliche Solidarität von Ukrainern und Russen mit ihren jüdischen Nachbarn.[49] (Auch im Schwarzbuch ist den Helfern und Rettern ein eigener Abschnitt gewidmet. Er trägt die Überschrift „Die Einheit der sowjetischen Menschen“).[50] Die offizielle Verschleierung der anti­semitischen Spezifik des Holocaust hing aufs engste mit den anti­semitischen Tendenzen zusammen, die sich seit der zweiten Kriegs­hälfte in der UdSSR immer stärker bemerkbar machten und in der Zerschlagung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und jüdischer Kulturinstitutionen und schließlich in der durch Stalins Tod „vorzeitig“ beendeten „Ärzteaffäre“ kulminierten. Auch über diesen heimischen Antisemitismus, dessen Zielscheibe er auch selbst geworden war, konnte Grossman nicht hinwegsehen. Sein Antifaschismus und sein Festhalten an seiner jüdischen Identität bedingten somit zugleich seinen Antistalinismus. Beides, Antifaschismus und Antistalinismus blieben aber keineswegs auf die „jüdische Frage“ begrenzt, denn Grossmans Werk folgt der Čechov zugeschriebenen Einsicht, mit dem Menschen zu beginnen. Und Grossman war ein russischer Schriftsteller, der in der russischen Sprache und literarischen Tradition unlösbar verwurzelt war und in seinen Kriegsromanen zuvorderst Kampf und Leiden der russischen oder besser der multinationalen rußländischen Bevölkerung beschrieb. Wenn man seinen Lebens- und literarischen Weg in eine Formel fassen kann, dann in die von Simon Markish geprägte: „Das jüdische Schicksal eines russischen Schriftstellers.“[51]

Daß Grossman dem Holocaust in seinem Roman einen zentralen Stellenwert gegeben hat, ist mindestens ebensosehr der Einsicht geschuldet, daß es sich hierbei um ein historisch einmaliges Menschheitsverbrechen handelte, wie seiner persönlichen Betroffenheit. „Die Zeit war gekommen für die Verwirklichung der grausamsten Pläne des Nationalsozialismus, gerichtet gegen den Menschen, gegen das Leben, gegen seine Freiheit. […] Die Parteiführung und Adolf Hitler persönlich fällten die Entscheidung zur gänzlichen Vernichtung der jüdischen Nation“, schreibt Grossman.[52] Der absolute, gegen jede einzelne von ihnen als jüdisch definierte Person gerichtete Vernichtungswille der Nationalsozialisten markiert eine Stufe der Unmenschlichkeit einer politischen Ideologie und der daraus erwachsenden Praxis, die historisch einmalig ist. Nachdem sich dieses Geschehen ereignet hat, kann keine politische Ethik, die nicht den Vorwurf der Geschichtsblindheit auf sich ziehen will, diesen Extremfall der Unmenschlichkeit als Maßstab des Möglichen außer acht lassen. „Als Kehrseite der Moderne war die Shoah das Zeugnis dafür, wie das Abendland bis zum Äußersten gegangen, ja bei einem Punkt ohne Wiederkehr angelangt war“, stellt Maria Ferretti treffend fest.[53]

Die universale Bedeutung des Holocaust scheint auch in Leben und Schicksal auf, in der Szene, in der Štrum sich mit seinem tatarischen Bekannten Karimov unterhält, der von einem Gespräch mit einem verwundeten Leutnant auf Heimaturlaub berichtet, welcher auf der Krim aus deutscher Kriegsgefangenschaft entkommen war. Er hat Nachrichten von der Lage hinter der Front. Zur Beruhigung von Karimov teilt er mit, daß die Deutschen den Tataren nichts antun. Karimov kann hoffen, Frau und Tochter wiederzusehen. „Was erzählt denn Ihr Leutnant von den Juden?“ fragt Štrum. „Er hat gesehen, wie man eine jüdische Familie, eine alte Frau und zwei junge Mädchen zur Erschießung getrieben hat. […] Ja, und außerdem hat er von Lagern in Polen gehört, wo man die Juden hinbringt, tötet und ihre Leichen zerstückelt wie auf dem Schlachthof. Aber das ist sicher Unsinn. Ich habe ihn speziell über die Juden ausgefragt, weil ich wußte, daß Sie das interessiert.“ „Nur mich?“ fragte  Štrum verwundert. „Muß das nicht jeden Menschen interessieren?“[54] Ähnlich hat es der russische Historiker Michail Gefter gesehen: „Es gibt keinen Genozid gegen ein einzelnes Volk. Ein Genozid ist immer gegen alle gerichtet.“[55]

Für Tony Judt ist „die wiederentdeckte Erinnerung an Europas tote Juden Definition und Garantie für die wiedergefundene Humanität des Kontinents“.[56] Grossman hat mit seiner journalistisch-dokumentarischen Pionierarbeit und mit Leben und Schicksal zu dieser Erinnerung beigetragen. Leben und Schicksal muß allerdings in Deutschland erst wiederentdeckt werden, nicht zuletzt, um auch hierzulande die nicht allzu deutliche Erinnerung an den Holocaust in der besetzten Sowjetunion zu schärfen, wo ein großer Teil der Opfer der Shoah gelebt hat.

Grossmans Werk ist aber auch geeignet, einer Gefahr entgegenzusteuern, die der Beziehung von Holocaust-Erinnerung und Humanitätsgarantie innewohnt, nämlich derjenigen, daß der Holocaust zu einer jeder historischen Konkretheit entkleideten Chiffre und zum Maßstab und pars pro toto für jegliche im großen Maßstab begangene Menschenrechtsverletzung wird. Der Holocaust ist von universaler Bedeutung, aber er ist zugleich, auch das macht die zitierte Passage aus Leben und Schicksal deutlich, eine spezifische Gruppenerfahrung, auch wenn die betroffene Gruppe, die der europäischen Juden, sehr groß und sehr heterogen war. Die Verkürzung der Millionen von konkreten Verfolgungsschicksalen auf eine politisch-moralische Chiffre, würde weder dem gelebten Leben und dem Schicksal der Opfer der Shoah gerecht werden noch den Schicksalen anderer Verfolgtengruppen. Die Erinnerung muß konkret bleiben, weil sie sich sonst in ein maskiertes Vergessen verwandelt, und das Massenverbrechen taugt nur als Mahnung dafür, in welchem Ausmaß das Böse vom Menschen Besitz ergreifen kann, aber nicht als Maßstab für Humanität. Für diese gibt es nur einen Maßstab, nämlich den Menschen.

Das ist, wie wir gesehen haben, Grossmans Ausgangspunkt. Daher beschränkt sich seine Auseinandersetzung mit der Ära von Totalitarismus und Weltkrieg nicht auf eine ausschließliche Betrachtung der Judenverfolgung. In seinem episch weit gespannten Werk gelingt es ihm, die Erfahrungen von GULag und nationalsozialistischem Konzentrationslager, den Hunger der frühen dreißiger Jahre in der zwangskollektivierten und ausgeplünderten Ukraine und denjenigen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern für Rotarmisten, den auch auf dem „freien“ Individuum lastenden ideologischen Druck in den Regimen Hitlers und Stalins und die Manifestationen des Antisemitismus in beiden anschaulich darzustellen. Grossmans Schilderung der Epoche ist notwendigerweise nicht zuletzt ein Tableau der Unmenschlichkeit, und dabei ist ihm eine überzeugende historische Einordnung der Motive und Erscheinungsformen der politischen Massenverbrechen der Ära von Hitler und Stalin gelungen. Mehr noch, Grossman hat viele Aspekte beschrieben, die von der historischen Forschung erst viel später aufgegriffen wurden, etwa die unbedenkliche Komplizenschaft der Reichsbahn-Lokomotivführer, die jüdische Opfer in die Vernichtungslager brachten, oder die große Bedeutung russisch-nationalistischer Unterströmungen im Stalinismus und das Aufkommen antisemitischer Tendenzen auf Seiten der UdSSR schon im Krieg. Und er hat auf ein Phänomen verwiesen, mit dem sich die historische Forschung noch kaum beschäftigt hat, nämlich die innere Dialektik der sowjetischen Kriegführung.

Der Große Vaterländische Krieg und die Freiheit

Kaum ein Krieg in der Geschichte war so sehr der Krieg eines Mannes – auch wenn Millionen dabei mitwirkten – wie der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Es war Hitlers Krieg; das Grundszenario und vor allem die ideologische Begründung für den Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg findet sich schon in seinem Buch Mein Kampf aus den zwanziger Jahren, als Hitler bloß ein gescheiterter Aufrührer und Putschist war. Umgekehrt aber war der Kampf der Roten Armee nicht einfach Stalins Krieg, auch wenn Stalin als strahlender Sieger daraus hervorging. Aber die Bezeichnung „Großer Vaterländischer Krieg“, hat doch, so sehr sie auch für das offiziöse Bild des Geschehens in Anspruch genommen worden ist, ihre Berechtigung. Man kann zwar nicht darüber hinwegsehen, daß aus keinem anderen mit Hitler-Deutschland kriegführenden Staat mehr NS-Kolla­borateure kamen als aus der Sowjetunion, und zwar nicht nur aus den baltischen und kaukasischen, sondern auch aus den slawischen Nationen,[57] doch stand die übergroße Mehrheit der Bevölkerung entschieden hinter den Bemühungen, den Angreifer niederzuringen. Grossman zeigt in seinem Roman, daß dabei nicht nur Gefolgschaft zu Stalin und seinem System oder ein unreflektierter Patriotismus, sondern mindesten ebenso sehr ein originäres Freiheitsstreben eine wichtige Rolle spielt, ja für Grossman ist die Freiheit die eigentliche Triebkraft des sowjetischen Sieges. Er illustriert dies an mehreren Beispielen.

Eines ist Major Eršov, Sohn eines verfolgten „Kulaken“, der in ein deutsches Konzentrationslager geraten ist und beginnt, eine Widerstandszelle zu organisieren. Die antikommunistische Propaganda der Vlasov-Leute hat auf ihn keine Wirkung. Zwar decken sich ihre Aussagen über die Verhältnisse in der Sowjetunion mit dem, was er von seinem Vater gehört hat, doch, so heißt es im Roman,

„er wußte auch, daß diese Wahrheit aus dem Mund der Deutschen und der Wlassowleute Lüge war. Er fühlte es, es war ihm klar, daß er im Kampf gegen die Deutschen für ein freies russisches Leben kämpfte, daß der Sieg über Hitler auch ein Sieg über die Lager werden würde, in denen seine Mutter, seine Schwestern und sein Vater umgekommen waren.“[58]

Eršovs Aktivitäten werden allerdings von der kommunistischen Zelle im Lager unterbunden, die ihn als unliebsame Konkurrenz betrachtet und dafür sorgt, daß er in ein anderes KZ verlegt wird.

Im Mittelpunkt seines Romans, der Schlacht von Stalingrad, hat Grossman das Haus 6/1 verortet, wo eine Pioniertruppe unter dem Kommandanten Grekov auf vorgeschobenem Posten den deutschen Angriffen hartnäckigen Widerstand leistet. Dort herrschen nach Meinung eines Politoffiziers Verhältnisse wie in der Pariser Kommune. Grekov verkehrt mit seinen Untergebenen von gleich zu gleich, genießt aber dennoch höchste Autorität. In seinen Gesprächen macht er keinen Hehl aus seiner Gegnerschaft nicht nur gegen das stalinistische System, sondern auch gegen die autoritäre Wendung, die Lenin der russischen Revolution gegeben hat. Der bereits erwähnte Kommissar Krymov wird in das Haus 6/1 geschickt, um „nach dem Rechten zu sehen“. Sein denunziatorischer Bericht, der, wie er weiß, zur Verhaftung und wahrscheinlichen Erschießung des Parteifeinds Grekov führen wird, kommt indes zu spät. Das Haus 6/1 wurde von einer deutschen Bombe vollständig zerstört. Der hartnäckige Widerstand hat indes die deutschen Gegner getäuscht, die im Truppenaufmarsch in der Kalmückensteppe eine Nachschuboperation zur Verteidigung der Stadt zu erkennen glaubten und auf die erfolgreich durchgeführte Einkesselung durch die Rote Armee nicht gefaßt waren. „So kam es, daß die Soldaten, die an der Uferböschung der Wolga dem Druck der Paulusschen Divisionen standhielten, der eigentliche Stratege der sowjetischen Stalingrad-Offensive waren. Doch die Ironie des Schicksals ging noch weiter: Durch die Berührung mit den arglistigen Fühlern der Geschichte verwandelte sich die Freiheit, Mutter des Sieges, die Zweck des Krieges war, auch in sein Mittel“, kommentiert Grossman.[59]

Das ist indes kein naiv-triumphales Freiheitspathos. Im deutschen Konzentrationslager, in einer erregten Debatte mit dem emigrierten und in Paris verhafteten russischen Sozialdemokraten Černecov läßt Grossman den sowjetischen Kommunisten Mostovskoj ausrufen:

„’An uns aber glauben die Engländer, Franzosen, Polen, Norweger und Holländer hier im Lager! In unseren Händen, in den Händen der Roten Armee, liegt das Schicksal der Welt. Sie ist die Armee der Freiheit’. ‚So, so’, unterbrach ihn Tschernezow, ‚schon immer? – Und wie war das mit der Besetzung Polens im Jahr ‘39 nach Absprache mit Hitler? Und mit Litauen, Estland und Lettland, die von euren Panzern niedergewalzt wurden? Und mit der Invasion Finnlands. […] All das für Freiheit und Demokratie? Daß ich nicht lache.’“[60]

Später jedoch modifiziert er seine Position gegenüber Mostovskoj: „Ihre Armee führt tatsächlich einen großen, entscheidenden Kampf. Es ist bitter für einen russischen Sozialisten, dies zu erkennen, sich darüber zu freuen und stolz zu sein, und zugleich zu leiden und Sie zu hassen.“

In seinem Bericht über Treblinka betont Grossman den Zusammenhang zwischen der Schlacht von Stalingrad und den Entwicklungen in den Vernichtungslagern:

„Man kann jetzt nachweisen, daß die höchsten von den Deutschen erreichten Mordziffern in das Jahr 1942 fallen. Sicher, daß keine Strafe sie ereilen würde, zeigten die Faschisten, wozu sie fähig waren. Oh, wenn Adolf Hitler gesiegt hätte, würde er schon verstanden haben, sämtliche Spuren der Verbrechen zu verwischen, alle Zeugen zum Schweigen zu zwingen [...] Keiner von ihnen hätte ein Wort gesagt. Und unwillkürlich, möchte man sich wieder vor jenen neigen, die im Herbst 1942, unter dem Schweigen der heute so lärmenden und siegestrunkenen Welt, in Stalingrad, an den Steilhängen der Wolga gegen die deutschen Armeen kämpften, hinter deren Rücken Ströme von unschuldigem Blut sprudelten und dampften. Die Rote Armee war es, die Himmler das Geheimnis von Treblinka entriß!“[61]

Dieses Motiv verdichtet sich später in der Beschreibung eines sowjetischen Vernehmungsoffiziers, der festgenommene deutsche Schergen verhört und „das hellgrüne Medaillenband der Schlacht um Stalingrad trägt [...] Ist es nicht wahrhaft ein Symbol, daß eine der siegreichen Stalingrader Armeen nach Treblinka, in die Gegend von Warschau, gekommen ist?“[62]

     Himmlers Befehl, die Spuren in Treblinka zu verwischen, stellt Grossman in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem sowjetischen Sieg in Stalingrad.[63]

Doch in einer eindrucksvollen Szene in Leben und Schicksal, die Stalin in seinem Kabinett während der entscheidenden Operationen in Stalingrad zeigt, hebt Grossman wiederum die Widersprüchlichkeit der Stalingrader Entscheidung hervor: Nicht nur das Todesurteil über die nazistischen Todeslager und Folterhöhlen sei nun gesprochen worden, sondern auch das Urteil über die von Stalin später kollektiv verbannten Kaukasusvölker, die deutschen und auch die sowjetischen Kriegsgefangen, von denen viele bei ihrer Rückkehr nach Sibirien deportiert worden seien, und auch das Schicksal der Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der jüdischen Kremlärzte, die Stalin am Ende seines Lebens als Mörder anklagen ließ, habe sich in diesen Stunden entschieden.[64] „Stalin war aufgeregt“, schreibt Grossman, aufgeregt, weil er sich der Bedeutung von Stalingrad für seine eigene Macht und seinen eigenen Ruhm bewußt ist. Er ist in ständigem Telefonkontakt mit den Militärs vor Ort und fordert ungeduldig den Einsatz der Panzertruppe. Dieser wird vom Panzerkorpskommandanten Novikov um einige Minuten verzögert, in denen die Artillerie den Panzern den Weg freischießen und so die Verluste von Menschenleben auf Seiten der Roten Armee verringern kann. Auch diese Episode illustriert das Paradox von Stalingrad[65], das Grossman auf den Nenner gebracht hat: „Der Stalingrader Triumph bestimmte den Ausgang des Krieges, aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen, seine Freiheit, ab.“[66]


Freiheitliche Erinnerung – ein schwieriger Weg

Auf diesen stummen Streit gibt es viele Hinweise, etwa die verbreiteten Freiheits- und Reformhoffnungen in der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft[67] oder auch Stalins Furcht vor einer „dekabristischen Infektion“ unter den Kriegsheimkehrern, die auf ihrem Weg nach Berlin mehr Kontakt mit der Realität des Auslands gehabt hatten, als  der Wirkung der sowjetischen Propaganda zuträglich war. Tatsächlich waren viele der sogenannten Šestidesjatniki, Angehörige der in den sechziger Jahren aktiven liberalen Intelligenz, jüngere Kriegsteilnehmer.[68] Der Patriotismus und Einsatzwille im Kampf gegen den nationalsozialistischen Angreifer bestimmte auch die Haltung nicht weniger späterer Dissidenten grundlegend; das gilt für Andrej Sacharov[69] ebenso wie für viele Frauen unter den Andersdenkenden,[70] und dies schlägt sich noch heute nieder, wenn es in einem von Liberalen und Menschenrechtlern getragenen Aufruf zu einer Manifestation gegen die Moskauer Demonstration russischer Nationalisten und Neofaschisten am neuen russischen Nationalfeiertag, dem 4. November 2005, heißt: „Faschisten, unsere Großväter haben Euch Moskau 1941 nicht überlassen. Wir überlassen Euch Moskau auch 2005 nicht!“ Illustriert ist der Aufruf mit einem Foto der Moskauer Siegesparade von 1945.[71]

In der von althergebrachten Stereotypen und deren Aktualisierung durch die offiziöse Geschichtspolitik geprägten russischen Erinnerungslandschaft,[72] ist eine Sicht des Krieges, wie Grossman sie vertritt, eine Minderheitenposition. Allerdings hatte Nikolaj Dostals insgesamt mehr als sechsstündige Fernsehserie „Štrafbat“, die am Beispiel der Geschichte eines Strafbataillons die stalinistische Repression im Krieg ebenso thematisiert wie sie ein – indes nicht immer realistisches – Modell eines gesellschaftliche und politische Gräben überbrückenden Patriotismus sowie eine eindringliche Darstellung des Kriegsgeschehens bietet, bei den russischen Fernsehzuschauern unlängst einen großen Erfolg zu verzeichnen.[73] Dennoch ist die Überwindung ideologisierter, stalinistischer oder staatspatriotischer Schemata bei der Wahrnehmung des Kriegsgeschehens in Rußland und Weißrußland eine Aufgabe, die noch viel Arbeit verlangen wird. Aber im „Westen“, der jetzt bis zum Osten der EU reicht, sollte man sich nicht frei von Einseitigkeiten und unvollständigen Geschichtsbildern wähnen. Manche Wahrnehmungssperren hinsichtlich des deutsch-sowjetischen Krieges scheinen sich sogar eher wieder zu verfestigen. So hat der ehemalige Direktor des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst in einem scharfsinnigen Artikel jüngst darauf hingewiesen, daß die Flucht und Vertreibung von ca. 14 Millionen Weißrussen, Ukrainern und Russen ins Landesinnere der Sowjetunion infolge des deutschen Angriffs den Machern der von der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ verantworteten, gesamteuropäisch angelegten Ausstellung „Erzwungene Wege“ keine Silbe wert ist.[74] In einer Dauerausstellung über osteuropäische Dissidenten in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau (Krzyżowa), dem einstigen Gut der Familie Moltke und Treffpunkt des Kreisauser Kreises stieß ich bei einem Besuch im Sommer 2005 auf die eigenartige Aussage, ab 1944 habe die Sowjetunion ihre Macht immer weiter nach Westen ausgedehnt. Nichts mehr, nicht eine Silbe etwa darüber, daß diese Ausdehnung das Ende für das wenige Kilometer von Kreisau entfernte KZ Groß-Rosen bedeutet hat, und schon gar nichts darüber, daß diese Ausdehnung der Niederringung eines Feindes galt, mit dem Frieden zu schließen angesichts seiner notorischen Vertragsbrüchigkeit und seiner in ganz Europa verübten Massenverbrechen unmöglich war. Und das, obwohl doch gerade gegen dieses Regime der in einer Parallelausstellung gewürdigte Widerstand der Kreisauer gegen den NS-Staat gerichtet war und obwohl Helmuth James Graf von Moltke als Jurist in der Kriegsvölkerrechtsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht für eine humane Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen eintrat. Moltke, der mit dem Feldzug gegen die Sowjetunion zunächst einverstanden war, änderte seine Position bald, und das nicht nur unter dem Eindruck der großen deutschen Verluste. „Das wäre aber noch erträglich, wenn nicht Hekatomben von Leichen auf unseren Schultern lägen“, schrieb er an seine Frau. „Immer wieder hört man Nachrichten, daß von Transporten von Gefangenen oder Juden nur 20 % ankommen, daß in Gefangenenlagern Hunger herrscht, daß unsere eigenen Leute vor Erschöpfung zusammenbrächen.“[75]

Ein ähnlicher blinder Fleck wie in den erwähnten Ausstellungen begegnet dem Leser auch in einer jüngeren Veröffentlichung der einflußreichen US-amerikanischen Publizistin Anne Applebaum, die für ihre Geschichte des GULag den Pulitzer-Preis erhalten hat. In einer in der New York Review of Books erschienenen Doppelrezension von Catherine Merridales Buch Ivan’s War über die Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte sowjetischer Weltkriegsteilnehmer und der Kriegsaufzeichnungen von Vasilij Grossman,[76] beschreibt sie letzteren durchaus mit Anerkennung und Sympathie – auch wenn sie fälschlicherweise meint, er sei erst am Ende seines Lebens ein Anti-Stalinist gewesen –,  doch glaubt sie bei Grossman einen Widerspruch zu erkennen: Obwohl er die sowjetische Propaganda durchschaut habe, sei doch eine gewisse Affinität zu sowjetischen Idealen oder jedenfalls zum Bild des guten und tapferen Sowjetsoldaten bei ihm zu erkennen. Es ist dabei nicht so wichtig, daß Applebaum offenbar Grossmans durchaus eindeutige Aufzeichnungen über die massenhaften Übergriffe von Rotarmisten vor allem gegen Mädchen und Frauen im besetzten Deutschland in dem von ihr besprochenen Werk überlesen zu haben scheint. Bedeutsamer ist ihre Interpretation dessen, was sie für sowjetische Ideale hält. Sie macht es an einer Aussage von Grossmans Tochter fest, die berichtet hat, Grossman sei stets aufgestanden, wenn man das Kriegslied „Heiliger Krieg“ gesungen habe, welches er für ein geniales Werk gehalten habe. Das in den ersten Kriegstagen entstandene Lied[77] ist sowohl vom Text (Vasilij Lebedev-Kumač) als auch von der Musik (Aleksandr Aleksandrov) her zündend und aufrüttelnd und wurde in Moskau von den Soldaten, die an die Front gingen mit Begeisterung gesungen. Besonders bemerkenswert aber ist, daß man im Text dieses Liedes vergeblich nach sowjetischen Idealen sucht. Es ruft die eigene Stärke und Größe („Riesenland“) ins Gedächtnis, um das Selbstvertrauen zu stärken, es kennzeichnet den nationalsozialistischen Angreifer mit wenig schmeichelhaften, aber nichtsdestoweniger realistischen Begriffen („Gewalttäter“, „Räuber“, „Menschenschinder“) und es ruft zu entschiedener, kampfesmutiger Niederringung des Feindes auf, wobei die Beschreibung der dafür nötigen Gewalt ganz uneuphemistisch und konkret daherkommt („Kugel in den Kopf“). Aufgerufen wird zum Schutz der Heimat. Lenin, Stalin, die Sowjetmacht kommen in dem Lied nicht vor. Vielleicht hat auch das einen Teil seiner Überzeugungskraft ausgemacht.

Applebaum jedenfalls findet Grossmans Geste „nicht überraschend“, aber nicht, weil sie sie als Respekt vor den Leistungen und den Opfern versteht, die die Rotarmisten zum Schutz ihrer Heimat und zum Niederringen des NS-Regimes erbracht haben. Sie meint vielmehr: „Ohne den Glauben, daß er und seine Landsleute für eine sinnvolle Sache gelitten hatten, wäre Grossman, wie die Kursker Veteranen Merridales mit nichts zurückgeblieben als Bitterkeit und der Erinnerung an den Schrecken.“[78]  Nach Ansicht Applebaums hat dieser Glaube offenbar keinen Realitätsgehalt, sondern beruht auf sowjetischer Propaganda und dient allein der psychischen Selbststabilisierung. Es ist schwer zu verstehen, was für ein eigentümliches Bild des Zweiten Weltkriegs hinter einer solchen Einstellung steht. Ist es nicht Realität genug, daß es Hitler und seinen Planern nicht gelungen ist, Moskau zu zerstören und seine Bevölkerung dem Untergang preiszugeben, daß der größere Teil der Bevölkerung von Leningrad gerettet werden konnte, daß das planmäßige Verhungernlassen von Dutzenden von Millionen Menschen, das die Wirtschaftsplaner des Ostkriegs vorgesehen hatten, so nicht umgesetzt wurde, daß Himmler seine monströsen Pläne für den Ausbau des KZ-Systems nicht umsetzen konnte, sondern im Gegenteil, die Vernichtungslager im Osten, wo Millionen zugrunde gegangen waren, aufgegeben werden mußten, daß Millionen zur Zwangsarbeit nach Deutschland Verschleppter nach Hause zurückkehren konnten, auch wenn sie dort nicht gut behandelt wurden?

In ihrer herablassenden Haltung gegenüber den Veteranen der Roten Armee und ihrer historischen Blickverengung erinnert Applebaums Äußerung an das eingangs bereits erwähnte Statement der lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, die im Februar 2005 erklärte: „Natürlich werden wir jene betagten Russen nicht überzeugen, ihr Bewußtsein nicht verändern, die am 9. Mai ihren Dörrfisch auf einem Stück Zeitung bereitlegen, Wodka trinken und ihre Gassenhauer singen und sich auch noch daran erinnern werden, wie heldenhaft sie das Baltikum erobert haben.“[79] In der Tat, das Baltikum hat die Rote Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs erneut besetzt, es folgten neue Deportationen, ein jahrelanger Untergrundkrieg, viele Balten flüchteten, ein massiver Bevölkerungsverlust war die Folge.[80] In Lettland wurden zwischen 13 und 17 Prozent der Bevölkerung Opfer der stalinistischen Verfolgung.[81] Das sind Tatsachen, die auch das offizielle Rußland anerkennen und in Betracht ziehen muß, wenn es zu einer Verständigung mit den baltischen Nachbarn kommen will.[82] Doch auch wenn der offiziöse russische Anspruch, die Sowjetunion habe die ganze Welt verteidigt,[83] wohl etwas zu hoch gesteckt ist, wird man – abgesehen von der Wahl des Tons – die Rolle der Roten Armee wohl kaum auf die Besetzung des Baltikums beschränken können.

Die zwischen den Reichen Hitlers und Stalins gelegenen Länder haben in sehr unterschiedlicher Form die Erfahrung der doppelten Besatzung gemacht. Die bisherigen Formen der Verarbeitung dieser Erfahrung sind nicht immer überzeugend. Im Budapester Terrorhaza etwa werden die deutsche Besatzung und die damit einhergehende Pfeilkreuzler-Ära knapp, die kommunistische Ära unter sowjetischer Oberherrschaft sowie der Aufstand von 1956 breit behandelt. Praktisch völlig außen vor bleiben die Ära von Admiral Horthy und dessen Paktieren mit Hitler. Eigene nationale Verantwortung wird auf diese Weise minimiert und nach außen, an die Adresse der Okkupanten delegiert.

Ganz ähnlich hat Vaira Vike-Freiberga bei der Entgegennahme des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken argumentiert. Die Bevölkerung Lettlands habe die Okkupationen durch die stalinistische UdSSR und das nationalsozialistische Deutschland nur passiv über sich ergehen lassen können. Man habe sich bemüht, nicht aufzufallen. „Es konnte keine Politik geben unter der Gestapo oder unter dem KGB. [...] Schockiert und ungläubig verfolgten weite Teile der Bevölkerung, wie Zehntausende friedlicher Zivilisten verhaftet, deportiert, gefoltert und ermordet wurden [...]“[84] Vike-Freibergas „friedliche Zivilisten“ erinnern an die „friedlichen sowjetischen Bürger“, des offiziösen Kriegsbildes der UdSSR, und hier wie da dient diese Verschleierungsformel dem Zweck, den Holocaust nicht beim Namen zu nennen. Obwohl der Oberste Rat der Republik Lettland im September 1990 erklärt hatte, die Republik Lettland übernehme die Verantwortung, „daß die Erinnerung an die jüdischen Opfer unsterblich ist“[85] und obwohl sie einen Preis empfangen hat, der nach einer deutschen Jüdin benannt ist, die auf der Flucht vor den nationalsozialistischen Mördern erst ihr Heimatland und dann den europäischen Kontinent verlassen mußte, hat Präsidentin Vike-Freiberga in ihrer Dankrede den Holocaust mit keiner Silbe direkt angesprochen. Sie hätte dann die schmerzliche Tatsachen erwähnen müssen, daß sich Letten an der Judenverfolgung beteiligten, und daß von den 66.000 lettischen Juden die zur Zeit der deutschen Besatzung ermordet wurden, 15.000 Opfer des Erschießungskommandos des lettischen Polizeioffiziers Viktor Arājs wurden.[86] „Wir müssen bestimmt mehr daran arbeiten, so etwas wie eine ganz spezifisch europäische Geschichte der Freiheit erzählen zu können“, erklärte das Arendt-Preis-Jury-Mitglied Willfried Maier bei der Podiumsdiskussion anläßlich der Preisverleihung, denn „Werte leben nur, wenn man sich darauf bezieht, in welcher Geschichte Werte geworden sind“.[87] Dem kann man nur zustimmen. Das erfordert jedoch, daß man die Geschichte präzise mit all ihrer Widersprüchlichkeit wahrnimmt. Dazu gehört, daß die europäische Geschichte nicht an den Grenzen der EU endet. Europa ist größer als die EU, und Rußland, die Ukraine und Weißrußland gehören zweifellos dazu. Ebenso zweifellos gehört die Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes, das sich einen großen Teil Europas unterworfen hatte, zur europäischen Freiheitsgeschichte. Den entscheidenden Anteil, den die Sowjetunion daran hatte, wird man auch nicht ausklammern können. Zweifellos hat Stalin im Krieg mit Hitler um seine eigene totalitäre Macht gekämpft, die er schließlich auf große Teile Ost- und Mitteleuropas ausdehnen konnte. Doch es hieße den Charakter des deutsch-sowjetischen Krieges verkennen, wenn man meinte, alle die Millionen von Bürgern der Sowjetunion, die an diesem Krieg teilgenommen haben, hätten dieselben Ziele und Motive gehabt wie der Diktator Stalin. Wer Stalin und das Volk gleichsetzt, begibt sich im Grunde auf den Boden stalinistischer Propaganda. Die Abwehr der deutschen Aggression, die Verteidigung der Heimat gegen einen menschenverachtenden Besatzer waren ebenso legitim wie die darauf folgende Vernichtung des NS-Regimes, das seine strukturelle Friedensunfähigkeit und seine verbrecherische Natur der Welt mehr als hinreichend bewiesen hat. In Europa endete der Zweite Weltkrieg daher 1945, mit dem Ende des Naziregimes. Die Epoche des Totalitarismus allerdings endete nicht, und zu den tragischen Folgen des Zweiten Weltkriegs gehört die Ausdehnung der sowjetkommunistischen Herrschaft mit all ihren Opfern. Diese Herrschaft aber, und das ist ein wesentlicher Unterschied zum grenzenlos aggressiven Nationalsozialismus, endete nicht in einem Krieg, geschweige denn gar in einem Weltkrieg. Am Ende waren es nicht die bewaffneten Untergrundkämpfer in den baltischen Wäldern, die das Ende dieser Herrschaft herbeiführten, sondern Menschen wie die von Vike-Freiberga erwähnten lettischen Intellektuellen, die in den achtziger Jahren Hannah Arendts Werk über den Totalitarismus unter Mißachtung der Zensur in lettischer Sprache in Umlauf brachten.[88] Eine wesentliche Voraussetzung dafür war der auch schon von Hannah Arendt beobachtete Übergang des Sowjetsystems vom totalitären in ein posttotalitäres Stadium,[89] eine Entwicklung, die allerdings ihre Grenzen hatte. Als Vasilij Grossman glaubte, die Veröffentlichung von Leben und Schicksal in der Sowjetunion durchsetzen zu können, hat er diese zu seiner Zeit gerade in Fluß geratenen Grenzen falsch eingeschätzt. Sein Versuch, bis an diese Grenzen zu gehen und sie noch auszuweiten, ist ein klares Eintreten für die Freiheit, ein Teil jenes von ihm selbst beschworenen „stummen Streits zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat“. Wer daran arbeiten will, „eine spezifisch europäische Geschichte der Freiheit erzählen zu können“, kann diesen Streit nicht ignorieren. Und er tut gut daran, auch die große und tiefgründige Arbeit nicht zu ignorieren, die Vasilij Grossman auf diesem schwierigen Feld schon geleistet hat.



[1] Leo, Annette (Hrsg.): Die wiedergefundene Erinnerung. Verdrängte Geschichte in Osteuropa. Berlin 1992; Luks, Leonid / O’Sullivan Donal: Die Rückkehr der Geschichte. Osteuropa auf der Suche nach Kontinuität. Köln 1999.

[2] Flacke, Monika (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. 2 Bde. Begleitbände zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. Berlin 2004. Einen instruktiven Überblick über die europäische Erinnerungslandschaft bietet der Epilog in Judt, Tony: Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. München 2006 (hier zitiert nach der Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), überschrieben „Erinnerungen aus dem Totenhaus. Ein Versuch über das moderne europäischen Gedächtnis“, S. 931-966.

[3] Lipinsky, Jan: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999. Frankfurt a.M. 2004, S. 391 ff.

[4] Festschrift zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2005 an Vaira Vike-Freiberga, als Beilage in: Kommune 2/2006, online unter http://www.boell-bremen.de/dateien/af29d24bf0b4339b4e56.pdf

[5] In der o.g. Dokumentation der Preisverleihung findet sich kein Hinweis darauf.

[6] Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Polianski, Igor J.: Die kleineren Übel im großen Krieg. Der 60. Jahrestag des Sieges: Das Fest des historischen Friedens und der Krieg der Geschichtsbilder zwischen Baltikum und Rußland, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, Mai 2005, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/polianski.pdf; Arndt, Melanie / Gerber, Veronika: Befreiung? Unerhört! Der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges – Baltische Wahrnehmungen und Reaktionen, in: ebd., http://www.zeitgeschichte-nline.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/arndt_gerber. pdf; Zarusky, Jürgen: Debatten um den Hitler-Stalin-Pakt: Eine Moskauer Konferenz und ihr Umfeld, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 331-342. Zusammen mit Weißrußland erwirkte Rußland sogar in der UNO-Menschenrechtskommission einen Beschluß, der sich u.a. gegen die Verherrlichung der Waffen-SS durch Denkmäler und Versammlungen richtet http://www.belarus-botschaft.de/de/presse11_2004_de.htm; am 16. Dezember 2005 wurde ein entsprechender Beschluß von der UNO-Vollversammlung angenommen http://www.ln.mid.ru/brp4.nsf/sps/702F5005E2204357C32570DD005702 26 .

[7] Blejere, Daina / Butulis, Ilgvars / Zunda, Antonijs / Stranga, Aivars / Feldmanis, Inesis: Istorija Latvii. XX vek. Riga 2005.

[8] Latvija pod igom nacizma. Sbornik archivnych dokumentov. Moskau 2006; Tragedija Litvy: 1941-1944 gody. Sbornik achivnych dokumentov o prestuplenijach litovskich kollaboracionistov v gody Vtoroj mirovoj vojny. Moskau 2006.

[9] Piadyshev, B.: We Defended the Whole World, Now We Will Take Care of Ourselves, in: International Affairs, Volume 51, Number 3, S. 18-21, S. 17.

[10] Ferretti, Maria: Unversöhnliche Erinnerung. Krieg, Stalinismus und die Schatten des Patriotismus, in: Osteuropa - Sondernummer 4-6/2005: Kluften der Erinnerung: Rußland und Deutschland 60 Jahre nach Kriegsende , S. 45-54, hier: S. 54.

[11] Korn, Salomon: NS- und Sowjetverbrechen. Sandra Kalnietes falsche Gleichsetzung, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 76 vom 31. März 2004, S. 13.

[12] In diesem Sinne zuletzt: Knabe, Hubertus: Tag der Befreiung? Kriegsende in Ostdeutschland. Berlin 2005.

[13] Judt, Europa, S. 966.

[14] Im heutigen Rußland findet Grossmans Werk nur begrenzte Aufmerksamkeit, sein 100. Geburtstag am 12.12.2005 wurde vergleichsweise bescheiden mit einer Hommage im Theater Eremitage begangen. Immerhin aber sind seine Werke, insbesondere der Roman Leben und Schicksal im Buchhandel erhältlich, vgl. etwa die 2005 in Ekaterinburg erschienene zweibändige Werkauswahl, die neben Leben und Schicksal einen Band mit Erzählungen umfaßt, darunter auch die kritische Analyse der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion Vse tečet; Vasilij Grossman: Izbrannoe. V 2-ch tomach. Ekaterinburg 2005. In den USA brachte 2006 die New York Review of Books den Roman im Rahmen ihrer Klassiker-Edition heraus [Vasily Grossman: Life and Fate. Translated and with an introduction by Robert Chandler], in Frankreich erschien im selben Jahr eine Werkauswahl, die neben den bereits genannten Werken und weiteren Erzählungen auch Dokumente zur dramatischen Geschichte des Romans sowie eine aufschlußreiche Einleitung des Philosophen Tzvetan Todorov enthält; Grossman, Vasili: Œuvres. Paris 2006. In Italien zeigte das Turiner Museo Diffuso vom Dezember 2005 bis Februar 2006 die Ausstellung „Vita e Destino. Il romanzo della libertà e la battaglia di Stalingrado“ und führte ein internationales Symposium durch. In Deutschland erinnerten ein Symposium an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und eine Hommage mit Lesung, Diskussion und Filmvorführung, die von der Münchner Volkshochschule und dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in München organisiert wurden, aus Anlaß seines 100. Geburtstags an den Autor.

[15] Vgl. Zarusky, Jürgen: Vasilij Grossmans Leben und Schicksal – zur Entstehung und historischen Konzeption eines Jahrhundertromans, in: Florian Anton, Leonid Luks (Hrsg.): Deutschland, Rußland und das Baltikum. Beiträge zu einer Geschichte wechselvoller Beziehungen. Festschrift zum 85. Geburtstag von Peter Krupnikow. Köln 2005, S. 245-276.

[16] Grossman, Vasilij: V gorode Berdičeve, in: Ders.: Izbrannoe, Bd. 2. Ekaterinburg 2005, S. 7-23. Wassilij Grossman. Die Kommissarin. Erzählung. Aus dem Russischen von Thies Ziemke. Mit zahlreichen Fotos aus dem gleichnamigen Film von Aleksandr Askoldov. Kiel 1989.

[17] Garrard, John / Garrard, Carrol:  The Bones of Berdichev: The Life and Fate of Vasily Grossman. New York 1996, S. 128; Waksberg, Arkadi: Gnadenlos. Andrei Wyschinski – Mörder im Dienste Stalins. Bergisch Gladbach 1991, S. 144 f.

[18] Garrard / Garrard, Bones, S. 122-125 Grossmans Brief an Ežov ist wiedergegeben ebenda S. 347 f.

[19] Lipkin, Semen: Žizn’i sud’ba Vasilija Grossmana. Ann Arbor Michigan 1986, S. 9.

[20] Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 2. Frankfurt 1990, S. 311.

[21] Grossman, Wassili / Ehrenburg, Ilja (Hrsg.), Lustiger, Arno (Hrsg. der deutschen Ausgabe): Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 59-72 (Die Ermordung der Juden in Berditschew, Autor: W. Grossman).

[22] Vgl. dazu Garrard / Garrard, Bones, S. 137 ff.

[23] Zuerst 1944 in Znamja; in deutscher Übersetzung erschien der Bericht 1946 unter dem Titel Die Hölle von Treblinka im Verlag für fremdsprachige Literatur in der sowjetischen Besatzungszone; im Nürnberger Prozeß diente er als Beweismaterial.

[24] Grossmans Kriegserfahrungen haben sich in zahlreichen Aufzeichnungen niedergeschlagen, die er z.T. später auch literarisch verarbeitete. Sie sind in Auswahl jetzt auch in englischer Sprache zugänglich: Beevor, Antony / Vinogradova, Luba (eds.): A Writer at War. Vasily Grossman with the Red Army 1941-1945. London 2005.

[25] Altman, Ilja: Das Schicksal des „Schwarzbuches“, in: Grossman / Ehrenburg (Hrsg.), Schwarzbuch, S. 1063-1084.

[26] Naumov, Vladimir P.: Nepravednyj sud. Poslednij stalinskij rasstrel. Stenogramma sudebnogo processa nad členami Evrejskogo Antifašistskogo Komiteta. Moskau 1994.

[27] Zarusky, Grossmans Leben und Schicksal, S. 257-263.

[28] Markish, Simon: Le Cas „Grossman“. Paris 1983, S. 91.

[29] Zur Verbreitung dieses antisemitischen Stereotyps in der UdSSR im Zweiten Weltkrieg vgl. Luks, Leonid: Zum Stalinschen Antisemitismus – Brüche und Widersprüche, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1997), S. 9-50, hier: S. 21 f.

[30] Markish, Le Cas, S. 91 f.

[31] Kostyrčenko: V plenu u krasnogo faraona. Političeskie presledovanija evreev v SSSR v poslednee stalinskoe desjatiletie. Dokumental’noe issledovanie. Moskau 1994, S. 346 f. Grossman verarbeitete diesen, ihn seelisch belastenden Schritt später in Leben und Schicksal (hier und im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe, München 1984; vgl. S. 862-870). 

[32] Der Brief ist auszugsweise abgedruckt bei Bočarov, Anatolij G.: Vasilij Grossman. Žizn’, tvorčestvo, sud’ba. Moskau 1990, S. 173 f.

[33] Garrard / Garrard, Bones, S. 260 f.

[34] Grossmans Brief ist vollständig abgedruckt bei Lipkin, Semen: Stalingrad Vasilija Grossmana. Ann Arbor, Michigan 1986, S. 80-84, und in: ders.: Žizn’ i sud’ba Vasilija Grossmana. Moskau 1990, S. 64-67.

[35] Nach Grossmans Eindruck – er sah sie auf Suslovs Schreibtisch liegen – umfaßten sie jeweils 15 bis 20 Seiten; vgl. Lipkin, Stalingrad, S. 86

[36] Bočarov, Grossman, S. 189.

[37] Lipkin, Stalingrad, S. 86.

[38] Etkind, Efim: Zwanzig Jahre danach, in: Leben und Schicksal, S. 905-917, hier: S. 906.

[39] Lipkin, Žizn’ i sud’ba, S. 119.

[40] Die Gesprächsaufzeichnungen Grossmans werden ausführlich zitiert bei Bočarov,  Grossman, S. 188 f.

[41] Lauer, Reinhard: Kleine Geschichte der russischen Literatur. München 2005, S. 206. Das Zitat entstammt den bei Lauer zitierten Statuten des sowjetischen Schriftstellerverbandes.

[42] Leben und Schicksal, S. 294 ff.

[43] Über die Wirkung von Grossmans Realismus auf die Leser findet sich in Elena Zubkovas Buch über die sowjetische Nachkriegsgesellschaft ein interessantes Zeugnis, ein Brief des Ingenieurs I. Efimov an Aleksandr Tvardovskij, den Chefredakteur der Zeitschrift Novyj mir. Efimov schrieb, daß er sich bei der Auswahl seiner Lektüre gewöhnlich auf die Rezensionen in der Pravda verlasse, so auch im Falle von „Za Pravoe Delo“, das er wegen Bubennovs Attacke nicht gelesen habe. Bei einem Sanatoriumsaufenthalt noch im selben Jahr sei ihm das Werk jedoch in die Hände gefallen und mangels anderer Lektüre habe er zu lesen begonnen und sich nicht mehr loslösen können. „Ich kann mir das nur mit der Tatsache erklären, daß ich zum erstenmal in vielen Jahren auf ein Buch gestoßen bin, in dem Menschen so dargestellt werden, wie sie im richtigen Leben sind und nicht entsprechend einem vorherbestimmten Schema von guten und schlechten Menschen.“ Zubkova, Elena:. Russia After the War. Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945-1957. Armonk N.Y. und London 1998, S. 160.

[44] Leben und Schicksal, S. 817.

[45] „Ich habe das Buch vor dem 20. Parteitag zu schreiben begonnen, noch zu Lebzeiten Stalins. Zu dieser Zeit, so schien es, gab es nicht den Schatten einer Hoffnung auf die Veröffentlichung des Buches. Und trotzdem habe ich es geschrieben“, heißt es in Grossmans Brief an Chruščev; Lipkin, Žizn’ i sud’ba, S. 64.

[46] Die Beziehung von Mutter und Sohn ist ein Thema, das im Roman in verschiedenen Variationen aufgenommen wird.

[47] Gespräch mit Irina Novikova und Fedor Gouber, 7.10.2006.

[48] Die Briefe sind in englischer Übersetzung abgedruckt bei Garrard / Garrad, Bones, S. 352 f., Zitat S. 353.

[49] Leben und Schicksal, S. 80-93. Eingehender zum Brief der Mutter und seiner spezifischen Rezeptionsgeschichte: Zarusky, Vasilij Grossmans Leben und Schicksal, S. 262 f.

[50] Schwarzbuch, S. 743-778.

[51] Markish, Simon: A Russian Writer’s Jewish Fate, in: Commentary, Vol. 81 Number Four, April 1986, S. 39-47.

[52] Leben und Schicksal, S. 199 f.

[53] Ferretti, Unversöhnliche Erinnerung, S. 52.

[54] Ebenda, S. 381.

[55] Zit. nach Al’tman, Il’ja: Žertvy nenavisti. Cholokost v SSSR 1941-1945 gg. Moskau 2002, S. 454.

[56] Judt, Europa, S. 934.

[57] Grossman setzt sich in seinem Roman auch mit der Kollaboration in der Vlasov-Armee differenziert auseinander; vgl. Leben und Schicksal, S. 320 f.

[58] Ebenda, S. 331.

[59] Ebenda, S. 511.

[60] Ebenda, S. 317.

[61] Grossman, Die Hölle von Treblinka, S. 12.

[62] Ebenda, S. 49.

[63] Ebenda.

[64] Leben und Schicksal, S. 675 f.

[65] Luks, Leonid: Paradoxien von Stalingrad. Zum Buch von Vasilij Grossman „Leben und Schicksal“ – anläßlich des 100. Geburtstages des Autors, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 9 (2005) Heft 1, S. 271-279.

[66] Leben und Schicksal, S. 686.

[67] Zubkova, Elena: Die sowjetische Gesellschaft nach dem Krieg. Lage und Stimmung der Bevölkerung 1945/46, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999), 363-383.

[68] Zu dieser Gruppe gehörte etwa der Historiker Aleksandr Nekrič; Nekritsch, Alexander: Entsage der Angst. Erinnerungen eines Historikers. Frankfurt a.M. 1983. Vgl. auch die Gedächtnisschrift für Nekrič Otrešivšijsja ot stracha. Pamjati A. M. Nekriča, Moskau 1996.

[69] Lourie, Richard: Sacharow. Eine Biographie. München 2003, S. 99 ff.

[70] Stephan, Anke: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen. Zürich 2005, S. 143 ff.

[71] http://www.memo.ru/2005/11/27/miting.htm

[72] Vgl. hierzu generell die instruktiven Beiträge in der Sondernummer der Zeitschrift Osteuropa, 4-6/2005: Kluften der Erinnerung. Rußland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg.

[73] Isabelle de Keghel: „Das Strafbataillon“. Eine rußländische TV-Serie zwischen kritischer Aufarbeitung und patriotischer Inszenierung, in: kultura. Russland-Kulturanalysen. Dezember 3/2005, S. 17-19, online unter: http://www.forschungsstelle-osteuropa.de/ con/images/stories/pdf/kultura/kultura_3.pdf . Der Erfolg der Serie ist zum Teil sicherlich auch auf die eindrucksvollen darstellerischen Leistungen der Schauspieler zurückzuführen.

[74] Jahn, Peter: Die vergessenen Russen. Leerstellen der Berliner Ausstellung über Flucht und Vertreibung, Süddeutsche Zeitung Nr. 198 vom 29.08.2006, S. 11.

[75] Van Roon, Ger: Graf Moltke als Völkerrechtler im OKW, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 18 (1970), S. 12-61, Zitat S. 38.

[76] Applebaum, Anne: The Real Patriotic War, in: The New York Review of Books, Volume 53, Number 6, April 6, 2006, S. 17 f.

[77] Im Internet in verschiedenen Versionen zu finden, u.a. mit russischem Text, deutscher Teilübersetzung und mp3-File unter http://ingeb.org/songs/ru01.html.

[78] „[…] without the belief that he and his countrymen had suffered for a purpose – Grossman, like Merridales Kursk veterans, would have been left with nothing but bitterness and the memory of horror.”

[79]  Vinogradskaja, Natal’ja: Kak budet po-latyški „vodka“, ili sbor kamnej dlja sosednego ogoroda [Wie „Wodka“ auf lettisch heißt, oder Steine sammeln für den Nachbargarten], http://www.wps.ru/ru/products/pp/tv-review/2005/02/04.html; siehe auch die Meldung von RIA-Novosti vom 4.2.2005, http://de.rian.ru/rian/rtf.cfm?prdid=567&ms gid= 5379656.

[80] Onken, Eva-Clarita: Wahrnehmung und Erinnerung: Der zweite Weltkrieg in Lettland nach 1945, in: Flacke, Mythen, S. 671-692, hier: S. 671.

[81] Ebenda, S.690.

[82] Erste Ansätze einer Verständigung auf der Ebene der historischen Wissenschaft gibt es; vgl. Zarusky, Debatten, und den Tagungsband, zu der in diesem Bericht behandelten Konferenz: Meždunarodnyj krizis 1939-1941 gg.: ot sovetsko-germanskich dogovorov 1939 g. do napadenija Germanii na SSSR. Materialy meždunarodnoj konferencii, organizovannoj Institutom vseobščej istorii Rossijskoj akademii nauk, Universitetom Latvii, Institutom sovremennoj istorii (Mjunchen), Moskovskim otdeleniem Fonda im. Konrada Adenauera. Moskva, 3-4 fevralja 2005 g.

[83] Piadyshev, We Defended the Whole World.

[84] Vike-Freiberga, Vaira: Die Zukunft Europas. Föderation politischer Nationen oder supranationale Gemeinschaft? in: Festschrift, S. III-VI, hier S. III.

[85] Onken, Lettland, S. 678. 

[86] Ebenda, S. 690.

[87] Festschrift, S. VIII.

[88] Festschrift, S. V.

[89] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 82001, S. 632.