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Kleine vergleichende Sprachgeschichte
Europa und die anderen Kulturkreise

Hier präsentieren wir Ihnen in Fett- und Kursivdruck sieben sprachgeschichtliche Merkmale des europäischen Kulturkreises und vergleichen Sie mit den übrigen Kulturkreisen (KK) (vgl. Einstiegsseite).


1. Der europäische KK zeichnet sich durch die Verbreitung des aus dem griechischen Alphabet hervorgegangenen lateinischen Schriftsystems aus, in dem die Buchstaben im Wesentlichen Lautzeichen entsprechen).

Dies verbindet den europäischen KK mit dem lateinamerikanischen und dem nordamerikanischen KK. Auch im sinischen und japanischen KK hat man in den letzten Jahrzehnten versucht, das lateinische Alphabet zu verbreiten; daneben gibt es aber immer noch die traditionellen, jahrtausendalte Wortzeichen des chinesischen und die Silbenzeichen des japanischen KK (letztere sind historisch eine Mischung aus dem chinesischen System und zwei ehemaligen japanischen Schriftsystemen). Der christlich-orthodoxe KK zeichnet sich durch das kyrillische Alphabet aus (von dem Schüler des Slawenmönchen Kyrill aus der griechischen Schrift entwickeltes System). Den islamischen KK charakterisieren die arabische Schriftzeichen (bei denen im Wesentlichen nur Konsonanten und Langvokale dargestellt werden). Der hinduistische KK wird mit der Devanagari-Schrift assoziiert (mit der auch schon das Sanskrit geschrieben worden ist); daneben wird Englisch freilich in lateinischer Schrift geschrieben und Bengalisch im Bengali-Alphabet, das sich aus dem Devanagari ableitet.


2. Die Amtssprachen (und Nationalsprachen) gehören fast alle einer Sprachfamilie an, nämlich der indogermanischen Sprachfamilie (Ausnahmen in Randgebieten: Ungarisch, Finnisch, Estnisch, Maltesisch sowie die Nationalsprache Baskisch).

Dies gilt ähnlich auch für den christlich-orthodoxen KK (am Rand Georgisch und die kaukasischen Sprachen) und für den lateinamerikanischen KK (hier ist die in Bolivien und Peru amtlich zugelassene Indianersprache Quechua zu nennen). Die Nationalsprachen des nordamerikanischen, des hinduistischen und des japanischen KK sind dagegen sogar ausschließlich von einer Sprachfamilie geprägt (indogermanisch bzw. im letzten Falle japanisch). Der islamische KK weist zwar mehrheitlich Nationalsprachen der hamito-semitischen Sprachfamilie auf, doch sind nordöstlich der arabischen Halbinsel auch eine Reihe von Mitgliedern anderer Sprachfamilien anzutreffen (altaische Sprachen und Urdu, eine indogermanische Sprache, die sich nur wenig vom Hindi unterscheidet -- die Auffassung als eigene Sprache ist religiös bedingt, wie beim Serbischen und Kroatischen); dazu kommt noch das Indonesische im südostasiatischen Ausläufer des KK. Der sinische KK ist in drei Sprachfamilien geteilt: in die sinotibetische Familie und die beiden isolierten Sprachen Vietnamesisch und Koreanisch.


3. Der europäische KK zeichnet sich durch einen (von Überlappungen geprägten) Wechsel von umspannenden Verkehrssprachen, sog. linguae francae, aus: Latein (6. - 19. Jh.), Französisch (von der Zeit Kardinals Richelieus und Ludwig XIV. bis zu den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen), Englisch (und zwar im Wesentlichen amerikanisches Englisch; seit Ende des 1. Weltkrieges mit der steigenden Wichtigkeit in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft).

Der Wechsel der Verkehrssprachen trennt den europäischen KK von den noch jungen Kulturkreisen auf der anderen Seite des Atlantiks (Englisch im nordamerikanischen, Spanisch im lateinamerikanischen KK). Im christlich-orthodoxen KK pflegt man bis ins 18. Jh. das Kirchenslawische mit seinen drei regionalen Varietäten, die durch das Russische, Serbische und Bulgarische gefärbt sind; danach gibt es auf Grund der Dreierteilung der slawisch-orthoxen auch keine gemeinsame lingua franca mehr; nach dem 2. Weltkrieg ist versucht worden, das Russische zu verbreiten, was aber im westlichen Teil des Ostblocks nur unter Zwang angenommen worden ist, während es in den postsowjetischen Gebieten noch heute ohne Zwang eine wichtige Rolle spielt. Im hinduistischen KK ist Sanskrit immerhin bis ins 20. Jh. als Schriftmedium verwendet worden; danach hat sich vor allem das Englische als Verkehrssprache durchgesetzt, während Hindi nur die zweitwichtigste Rolle spielt. Der japanische KK war stets durch das Japanische geprägt. Im chinesischen KK gab es nie eine gesprochene lingua franca, die Klammer des KK war die chinesische Schrift (mit der ganz unterschiedlich klingende Dialekte verschriftlicht worden sind).


4. Die derzeitige lingua franca ist im Prinzip eine Sprache, die keine echten Muttersprachler im eigenen KK hat, da das Englische, das als nationenübergreifende, KK-umspannende Sprache verwendet wird, in der Regel das amerikanische Englisch und nicht das britische Englisch ist (mit Ausnahme der EU-Administration). Auch das Lateinische war seit etwa dem 7. Jh. eine Verkehrsprache ohne Muttersprachler.

Dies gilt im Augenblick nur für den europäischen KK. Es galt aber auch einmal für den christlich-orthodoxen KK, solange das Kirchenslawische als lingua franca verwendet wurde (vom 9. Jh. bis ins 18. Jh., ab 11. Jh. als "tote" Sprache aufzufassen), und für den hinduistischen KK, solange Sanskrit (zumindest als Schriftsprache) verwendet wurde (das schon 400 v.Chr. keine gesprochene Sprache mehr war).


5. Eine der Säulen des KK ist eine ehemalige Zivilisation, deren Sprache noch heute in den Idiomen des KK (durch Lehnwörter und Neubildungen aus Elementen der antiken Sprache) spürbar ist: das Latein der römischen Zivilisation.

Zwar haben auch der lateinamerikanische und der christlich-orthodoxe KK Elemente früherer Kulturen aufgenommen, dies manifestiert sich in der Sprache (indianisches Lehngut bzw. griechisches) aber deutlich weniger als beim europäischen KK. Die restlichen KK scheinen sich hingegen ohne das Erbe einer vorher aufgesogenen Kultur entwickelt zu haben.


6. Eine der Säulen des europäischen KK ist die Religion, die durch die Bibel als grundlegende Schrift manifestiert wird; dieses Werk ist im Laufe der Zeit immer wieder in die Volkssprachen übersetzt worden.

Dies gilt auch für übrigen westlichen Sub-KK und dies gilt auch für den christlich-orthodoxen KK; die christliche Religion ist inhärent mehrsprachig (so ist etwa das Alte Testament im Original hebräisch, das Neue Testament griechisch und die Inschrift an Jesu Kreuz lateinisch, griechisch und hebräisch). Der Koran des islamischen KK hingegen wird bis heute nur im Klassischen Arabisch gelesen. Die Sprachen der Veden des hinduistischen KK ist das sog. Vedische -- wie das Sanskrit ein Dialekt des Altindischen; die Veden wurden später ins Sanskrit übersetzt (das dann allerdings bis ins 20. Jh. als "tote" Verkehrsprache verwendet worden ist); Übersetzungen in modernes Hindi oder Englisch sind noch sehr jungen Datums. Der weit verbreitete Jainismus auf dem indischen Subkontinent wird manchmal als Ableger des Hinduismus gesehen. Der sinische KK zeichnet sich durch keine KK-umfassende Religion aus, er ist geprägt von Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus. Im japanischen KK ist der Shintoismus charakteristisch, der bis 1945 Staatsreligion war; dessen Haupttexte Kojiki und Nihon Shoki sind im 18. Jh. in moderne japanische Sprache und Schrift übertragen worden.


7. Trotz der Wichtigkeit der Religion war das Entstehen der linguae francae nie mit religiösen Aspekten verbunden, sondern mit kulturellen und politischen Gründen.

Dies gilt mit Sicherheit für die linguae francae aller KK mit Ausnahme des arabischen und des hinduistischen KK (in Bezug auf Hindi). Für früherere Zeiten ist natürlich auch die Verbreitung des Kirchenslawischen als Folge der Ausbreitung des orthodoxen Christentums zu sehen.


FAZIT: Der europäische ist in keinem einzigen der genannten Aspekte einzigartig, aber in der Kombination. Der europäische KK darf sprachlich gesehen sicher als der "lateinische" KK gesehen werden. Während in den engsten verwandten KK beider Amerikas das Lateinische kaum als Verkehrssprache gepflegt wurde, ist das Lateinische bis ins 19. Jh. "lebendiges" Medium und lateinische Zitate werden östlich des Atlantiks in weitaus höherem Maße gepflegt als westlich.